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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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festsetzte, der mich oft für Stunden lähmte. Was sie sagte, war eigentlich egal. Sie stand im Türrahmen und wedelte mit angewidertem Gesicht aggressiv mit dem schwarzen Heft.
    »Das ist nichts, worauf du stolz sein könntest! Schäm dich!«
    »Du sollst mein Zeugnis auch niemandem zeigen! Ich bin doch kein Arsch, dessen Scheißzeugnis man rumzeigt.«
    Ich ging zu ihr, riss ihr das Heft aus der Hand und steckte es zurück in meinen Schulranzen. Es war meins.
    »Arsch, Scheiß, Arsch, Scheiß«, äffte meine Mutter mich nach. »Dein Mund ist wie eine Toilette! Wenn du ihn öffnest, stinkt es!«
    Mir hingen die Hasstiraden meiner Mutter zum Halse heraus. Der Inhalt glitt zwar an mir ab wie Öl, aber sie hatte für mich mittlerweile eine ganze Reihe von speziellen Beschimpfungen reserviert, die sie sonst zu niemandem sagte, um mich maßzuregeln, zu beleidigen, mir ihren Willen aufzuzwingen oder meinen Stolz anzukratzen. Es ging immer darum, was für ein verachtenswerter Nichtsnutz ich in allen Bereichen des Lebens war. Je aggressiver sie wurde, desto mehr zwang sie mich, meinen Fäkalwortschatz noch ein wenig mehr auszubauen, um bei der nächsten Gelegenheit zurückzuschießen. Ich konnte mittlerweile auch sehr gut die Ohren schließen. Oft stand sie minutenlang vor mir und brüllte mich an, und ich hörte kein einziges Wort davon.
    Ich war versetzt worden, mehr konnte man von mir nun wirklich nicht erwarten. Ich zog mein Sommerkleid aus und einen Bikini an, ging aus der Wohnung und hüpfte mit meinen nackten Füßen die kalten Marmortreppen hinunter. Meine Mutter schrie mir noch hinterher:
    »Nicht vor dem Essen in den Pool, es ist Mittagssonne! Komm hoch.«
    Aber ich überhörte das. Ich wollte nichts essen, denn wir hatten uns alle noch ein großes Eis in dem Krämerladen vor dem Bushof reingeschoben. Ich nahm Anlauf, sprang ins Wasser und warf mich auf die gelbe Luftmatratze, die einsam im Wasser trieb, legte den Kopf auf das heiße Plastik und machte mir Sorgen.
    Sechs lange Wochen Sommerferien standen mir bevor, und wieder sprach niemand von einer Reise nach Südfrankreich. Die meisten meiner Schulfreunde würden in den nächsten Tagen nach Deutschland fliegen, zu ihren deutschen Omas und Verwandten. Ich konnte mir nichts Schöneres vorstellen, als die Sommerferien in Deutschland bei einer liebevollen deutschen Oma zu verbringen, die für mich Kartoffelpuffer und Apfelkuchen buk und mir mit Begeisterung alles kaufte, was ich gern hätte. Stattdessen saß ich hier fest, entweder oben mit meiner hysterischen, immer genervten Mutter oder hier unten in dem Garten meiner noch hysterischeren Großmutter, die jetzt zum Glück ihren Mittagsschlaf hielt. Während mir die heiße Teheraner Juni-Mittagssonne auf den nackten Rücken brannte, stellte ich mir deutsche Ferien vor, lange Tage in einem Freibad, mit einem Brauner-Bär-Eis in der Hand vor der Langnese-Tafel in einer lauten Schlange von nassen, zitternden Kindern vor dem Kiosk stehend. Und später in dem Meer von Fahrrädern sein eigenes wiederfinden und mit einer Freundin auf dem Gepäckträger eiernd nach Hause fahren und sich müde und hungrig aufs Abendessen vor dem Fernseher stürzen. Ich hatte, seit wir in Teheran waren, auf keinem Fahrrad gesessen, mein Rad vergammelte in dem feuchten, nach Moder stinkenden Keller meiner Großmutter. Wo hätte ich auch damit hinfahren sollen? Da wo wir wohnten, gab es keine Radfahrer, nur die Glücklichen, die in Gholhak in der Nähe unserer Schule wohnten, hatten Fahrräder oder Motorräder.
    Für mich gab es höchstens die Möglichkeit, ans Kaspische Meer zu fahren, wo der Vater meiner Mutter in der Stadt Rasht ein großes Anwesen besaß. Mein Großvater war Tee- und Reisfabrikant und nannte in der Umgebung von Rasht große Ländereien mit Tee- und Reisplantagen samt einer großen Fabrik, in der beides verarbeitet wurde, sein Eigen. Die Gegend am Kaspischen Meer besteht aus sehr feuchtem und fruchtbarem Flachland, wie ich im Erdkundeunterricht lernte, also ideal für Reisfelder, die halb unter Wasser stehen.
    Das Holzhaus meines Großvaters hatte mehrere Ebenen und Stockwerke, die ineinander übergingen. Wenn man über den knarzenden Dielenboden durch das Haus lief, irrte man von einem Salon in den nächsten, und überall standen angestaubte Antiquitäten auf vielen Lagen alter Teppiche. Manche Teppiche waren so kostbar, dass man sie nicht auf den Boden legen durfte, sie mussten an der Wand hängen, neben gigantischen

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