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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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in die Bettwäsche, bis ich ein Buch nach dem anderen gelesen hatte und der Turm verschwunden und alle Bücher in meinem Regal und die Geschichten in meinem Kopf waren. Dann fuhr ich mit Mama wieder in die schöne Buchhandlung, und wir kauften Nachschub für mich. Ich hatte dort auch das Buch zu meiner Lieblingsserie, die vor unserer Abreise im deutschen Fernsehen im Kinderprogramm lief, gefunden: »Robbi, Tobbi und das Fliewatüüt« von Boy Lornsen. Es handelte von einem Jungen und seinem Freund, dem Roboter Robbi, und seiner Erfindung, die Robbi gebaut hatte, das Fliewatüüt. Das Buch war sehr dick, und es machte Spaß zu lesen, was ich schon im deutschen Fernsehen mit Marionetten gesehen hatte.
    Ein anderes Buch, das ich so oft las, dass ich es bis heute auswendig kenne, hatte einen senffarbenen Schutzumschlag, und es stand in blauer Schrift drauf: Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis. Es hieß »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl«, geschrieben von Judith Kerr. Sie erzählt in diesem ersten Band einer Trilogie die Geschichte ihrer eigenen Kindheit aus der Sicht des kleinen jüdischen Mädchens Anna, die wie sie 1933 nach der Reichskristallnacht mit ihren Eltern vor den Nazis aus Berlin in die Schweiz flieht, und wie es von dort die Familie nach Paris verschlägt, und am Ende des ersten Buches feiert sie in London auf dem Trafalgar Square mit Millionen anderen das Ende des Krieges. Ich weiß nicht, warum mich gerade dieses Buch so gefesselt und tief beeindruckt hat, aber ich konnte Anna in allen Zeiten ganz genau verstehen. Die Stimmung der Eltern, die Traurigkeit ihres Vaters, eines berühmten Theaterkritikers, dessen Texte niemand mehr drucken wollte, weil er Jude war, die Verwirrung in der Fremde und der Druck, etwas Unbekanntes lernen zu müssen, und die Freude, es dann plötzlich zu können und zu verstehen.
    Eine Stelle in dem Buch beschäftigte mich besonders. Die kleine Anna liest die Biographien von ein paar berühmten Menschen, denn sie möchte selbst auch unbedingt berühmt werden, genau wie ich. Sie stellt fest, dass alle berühmten Menschen eine schwere Kindheit hatten. Und schließt dadurch darauf, dass man eine schwere Kindheit gehabt haben muss, um berühmt zu werden. Dann fällt ihr ein, dass sie eigentlich eine glückliche Kindheit hatte. Sie, ihr Bruder und ihre Eltern waren immer zusammen, egal was passierte und wo sie waren. Die Stelle erschütterte mich sehr. Ich senkte das Buch und sah mich in meinem Zimmer um. Wenn Annas Kindheit mit der Flucht vor den Nazis nicht als hart durchging, was sollte ich dann sagen. Hinter mir waren keine Nazis her, ich war nicht jüdisch, wir mussten nirgends hin fliehen. Mein Vater hatte den tollsten Beruf, den man in Persien haben konnte. Er war ein Doktor aus Deutschland, alle lagen ihm zu Füßen, und er verdiente viel Geld. Ich lebte in einem großen Zimmer mit schönen Möbeln aus einem deutschen Möbelhaus, die ich mir selbst ausgesucht hatte, was andere persische Kinder überhaupt nicht kannten. Wenn ich auf meinen Balkon ging, sah ich nach unten auf den hellblauen Pool. Für mich wurde extra gekocht, und ich hatte ein geliebtes Haustier. Ich war nicht unterernährt, und mein Wintermantel war mir nicht zu klein, und meine Mutter musste nicht überlegen, woher sie das Geld für einen neuen nehmen sollte, sondern ließ ihn bei einer exquisiten Schneiderin für mich maßanfertigen. Jeden Morgen wartete ein großes Glas mit frisch gepresstem Orangensaft auf mich, damit mein Körper auch genug Vitamine bekam. Von dem Schulgeld, das meine Eltern in einem Monat für mich zahlten, lebten im Süden Teherans zehnköpfige Familien. Ich wurde plötzlich wahnsinnig traurig: Es war einfach vollkommen ausgeschlossen für mich, jemals berühmt zu werden.

3
    A m Ende der Ehrenrunde wurde ich ohne Probleme auf das Gymnasium versetzt. Aber Frau Schimmek hatte nicht darauf verzichtet, handschriftlich unter mein Zeugnis zu schreiben:
    »Leily benahm sich ihren Mitschülern gegenüber oft unsozial.«
    Ich legte das Zeugnisheft mittags auf den Esstisch und ging in mein Zimmer. Kurz danach hört ich meine Mutter laut schreien.
    »Gut gemacht, dieses Zeugnis kann man auch niemandem zeigen!« Sie hatte ihre berühmte Keifstimme eingeschaltet, die ich so sehr hasste, weil sie in meinen Ohren wehtat, ein Schmerz, der durch meinen ganzen Körper drang und sich zum Schluss, wenn sie fertig war mit Keifen, in meinem Herzen wie ein glühend heißer Stachel

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