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Hinter dem Mond

Hinter dem Mond

Titel: Hinter dem Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wäis Kiani
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eigenen Pisse lagen und keine Windel trugen, und war erstaunt, wie groß die Geschlechtsorgane von Jungs waren, die selbst noch so winzig waren. Jedenfalls gab es dann sofort eine Infusion, und wenn mein Vater die Nadel durch eine Ader am Kopf des Babys stach und die Nadel mit etwas Gips fixierte, heulten die Frauen laut und beteten hysterisch.
    Dann saßen sie neben dem Bett, auf dem der halbtote Winzling lag, und weinten, während der Mann, vermutlich ein einfacher Arbeiter, hilflos daneben saß und seine Gebetskette durch die Finger laufen ließ.
    Wenn die Infusion durch war, gab mein Vater dem Mann ein Rezept und schrieb ihnen Humana-Heilnahrung auf, womit sie ihr Baby füttern sollten. Er importierte diese spezielle Babymilch seit kurzem selbst aus Deutschland, denn zu seinem Entsetzen hatte er gesehen, dass die Babys an Durchfall starben wie die Fliegen, es aber nichts außer Reismilch gab, was man ihnen geben konnte. Und es interessierte die iranische Pharma-Industrie nicht weiter. Sie fanden die vielen toten Säuglinge ganz normal. Die Babys mochten die Reismilch verständlicherweise nicht und schrien solange, bis die Mütter es nicht mehr aushielten und ihnen die Brust gaben, woraufhin die Babys kurze Zeit später leblos in ihren nassen Windeln lagen. Dass man bei Durchfall keine Milch trinken darf, wusste sogar ich. Dann erklärte meinVater der heulenden, betenden Mutter noch laut und geduldig, wie sie die Heilnahrung zubereiten und ihre Milch aus der Brust abpumpen und wegschütten solle.
    Zwei Wochen später kam die ganze Gruppe dann immer noch einmal, das Baby war wieder fit, und mein Vater wurde als Heiliger verehrt. Oft brachten sie ihm als Dankeschön eine große Schüssel Asch oder anderes streng riechendes Essen, was mein Vater aber seinen Angestellten schenkte, weil er ja selbst Angst vor Infektionen hatte. Er verdiente mit der Heilnahrung mittlerweile so viel, dass er immer weniger Lust hatte, die superarmen Patienten für wenig Geld in seiner Praxis zu behandeln. Sein Gewissen erlaubte es ihm nicht, den Laden zu schließen und sich aufs Geldscheffeln zu konzentrieren, sagte er. Aber in Wahrheit war es so, dass nur Geld verdienen unter seiner Würde war. Er hätte sich dadurch gesellschaftlich degradiert, dann wäre er nur ein primitiver Geschäftsmann gewesen, so wie sich fast jeder in Persien nannte, und kein studierter Arzt und Akademiker. Ich traf auch die Tochter des Hausmeisters wieder, der das Praxisgebäude meines Vaters bewachte und Hilfsdienste ausführte. Sie stand in der Ecke des Hofs und wusch Aluminiumgeschirr mit dem Wasserschlauch, so wie sie es auch damals immer getan hatte, in meiner Anfangszeit in Teheran, als ich sie kennenlernte. Die Praxis war zu der Zeit noch eine halbe Baustelle gewesen, und ich hatte meinen Vater aus Langeweile oft dahin begleitet. Während er sich mit den Handwerkern herumschlug, sah ich, wie ein Mädchen in meinem Alter schwere Wasserkannen in das Hausmeisterhäuschen schleppte und mit einem riesigen Besen den Hof kehrte. Sie war schon elf Jahre alt, wie sie mir später sagte, aber sie war trotzdem etwas kleiner als ich und trug die gleiche Kleidung wie alle armen Erwachsenen: Schlafanzughosen, einen billigen Polyester-Pulli und einen geblümten Tschador, den sie um ihren schmächtigen Leib gewickelt hatte. Ich ignorierte das und dachte, wir könnten trotzdem Freundinnen sein. Ich brachte meine Barbies und andere Spielsachen mit, aber zu meiner Verwunderung war sie sehr distanziert, siezte mich und lachte ständig verlegen, wenn ich ihr erklärte, wie man Barbie anziehen muss, bevor sie sich zu Ken in sein Cabrio setzt. Sie konnte überhaupt nichts damit anfangen, ich konnte mit ihr auch nicht spielen. Sie musste sich um ihre kleinen Geschwister kümmern, den Hof fegen, Wäsche waschen und sogar Essen kochen. Vielleicht war sie deshalb ernst wie eine kleine Erwachsene, und als sie mir den einzigen Raum zeigte, in dem sie mit ihren Eltern und vier jüngeren Geschwistern lebte, schlief und aß, wusste ich, dass sie nichts zu lachen hatte. Der ganze Raum war so groß wie mein Zimmer. In der Ecke standen ein Gaskocher und ein kleiner Schemel. Auf dem Kocher brodelte es in einem Topf, und es roch nach gekochten Schafsknochen.
    »Wo schlafen deine Eltern?«, fragte ich sie. In dem Raum war nichts, nur ein paar Bündel und zusammengerollte Matten.
    »Hier.«
    »Und wo schläfst du?«
    »Auch hier«
    »Und deine Geschwister?«
    »Auch hier.«
    »Ja, aber, wo

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