Hinter der Nacht (German Edition)
dass
er wiederkommen würde, wenn ich nichts täte.
Suche
Clarissa
Nach dem
zwanzigsten Klingeln schien mir klar, dass bei Arik niemand zu Hause war – oder
zumindest niemand ans Telefon ging. Im Laufe des Schulvormittags hatte ich es
mindestens ein halbes Dutzend Mal probiert, nachdem ich seine Nummer aus dem
Telefonbuch herausgesucht hatte, doch immer mit dem gleichen Misserfolg. Einerseits
war ich jedes Mal erleichtert, nicht mit ihm reden zu müssen (auch wenn das
eigentlich gar nicht mein Plan war – es würde ja reichen, seine Stimme zu
hören) – andererseits nahm meine Unruhe mit jedem erfolglosen Versuch weiter
zu. Als die Schule aus war, war ich ein echtes Nervenbündel. So würde das
Wochenende schrecklich werden.
Ich grübelte
über Alternativen nach. Am einfachsten wäre es sicherlich, zu ihm zu fahren.
Aber dazu brachte ich beim besten Willen nicht den Mut auf. Es wäre verdammt
peinlich, vor seiner Tür zu stehen und zugeben zu müssen, dass mich mein
schlechtes Gewissen dorthin getrieben hatte. Wenn ich nur irgendeine Ausrede
hätte…
Hilfe kam von
unerwarteter Seite. Am Ende der Geschichtsstunde, als wir alle gerade dabei
waren, unsere Bücher einzupacken, hielt uns Miss Urquhart auf: „Ach, ehe ich es
vergesse, Herrschaften. Ich hätte da noch eine Bitte. Euer Mitschüler, Arik
East, fehlt ja nun schon recht lange. Wer von euch wäre so freundlich, ihm die
Aufgaben der letzten Wochen vorbeizubringen, damit er nachholen kann, was er
versäumt hat?“
Während noch
allerseits betretenes Schweigen herrschte, führte ich einen kurzen, aber
heftigen Kampf mit meinem schlechten Gewissen. Zwar war die Vorstellung,
tatsächlich zu ihm zu fahren, am Rande des Erträglichen, und schon bei dem
bloßen Gedanken daran wurde mir vor Nervosität fast schlecht, aber andererseits
war das genau die Chance, auf die ich gewartet hatte. Und ehe ich noch eine
bewusste Entscheidung getroffen hatte, hob sich mein Arm in die Höhe. Das
Getuschel um mich herum verstummte abrupt, und sofort wurde ich knallrot. Erst
jetzt wurde mir bewusst, wie mein Engagement auf die anderen wirken musste. Ich
schluckte, aber mein Arm blieb tapfer oben.
„Clarissa! Das
ist aber nett von dir!“ Miss Urquhart sah aus, als nähme ich ihr eine große
Sorge ab und bedankte sich überschwänglich. Dann drückte sie mir einen dicken
Stapel Papiere in die Hand und entließ uns.
Ich nahm mir
vor, meine Mission gleich im Anschluss an die Schule hinter mich zu bringen,
bevor mich der Mut wieder verließ. Die Fahrt mit dem Bus dauerte länger als
erwartet und meine Nervosität nahm mit jeder Minute zu und steigerte sich so
weit, dass ich schon befürchtete, es keine Sekunde länger auszuhalten, ohne
mich gleich hier, mitten im Gang, zu übergeben. Endlich hielt der Bus an. Am
liebsten wäre ich sofort wieder umgedreht, und nur, indem ich mir den üblen
Traum von letzter Nacht wieder bildlich ins Gedächtnis rief, konnte ich mich
dazu zwingen, auszusteigen. Und so stand ich schließlich wieder vor dem Haus,
an dem ich Arik das letzte Mal gesehen hatte.
Zweifelnd sah
ich an dem Gebäude hoch. Besonders anheimelnd sah es wahrhaftig nicht aus. Eher
wie eine heruntergekommene Mietskaserne aus dem letzten Jahrhundert. Unschöner
Siebziger-Jahre-Stil. So etwas kannte ich aus meinem postkartenkitschigen
Heimatort nicht. Und auch hier in Inverness waren mir derartige Bausünden
bislang noch nicht begegnet. Sie passten nicht in das pittoreske Bild, das
Schottland im Allgemeinen vermittelte. Allerdings sahen die anderen Häuser in
dieser Straße auch nicht besser aus. Dies war definitiv keine Gegend, in die es
Fremde wie mich normalerweise verschlug. Aber zu Arik passte sie wie die Faust
aufs Auge.
Nervös suchte
ich die zerfledderten Namensschilder ab, die am Hauseingang klebten. Schon nach
kurzer Zeit hatte ich gefunden, was ich suchte. East. Sonst nichts. Das musste
er sein. Ich atmete noch einmal tief durch, dann drückte ich mit bebenden
Fingern auf den Klingelknopf.
Nichts tat sich.
Ich wartete eine
Minute, dann klingelte ich noch einmal. Wieder nichts. Kein Summer ertönte.
Ein Teil von mir
war erleichtert und wollte auf der Stelle gehen. Schließlich hatte ich guten
Willen gezeigt. Sein Pech, wenn er nicht da war. Niemand könnte mir einen Vorwurf
machen. Aber mein besseres Ich behielt die Oberhand. Vielleicht funktionierte
die Klingel ja nicht? Bei dem Zustand dieses Gebäudes war alles möglich. Und
wenn ich jetzt ging, wäre
Weitere Kostenlose Bücher