Hinter der Nacht (German Edition)
in meinem Rucksack auf mich warteten, aber
zum Lesen fehlte mir die nötige Ruhe. Nach einigem Hin und Her schnappte ich
mir schließlich meine Jacke und stolperte dann ziellos aus dem Haus. Draußen
nieselte es vor sich hin, so sanft, dass das für echte Schotten wahrscheinlich
als erhöhte Luftfeuchtigkeit durchgehen würde. Ich setzte meine Kapuze auf und
lief einfach drauflos, ohne eine Ahnung zu haben, wohin ich ging.
Leider merkte
ich bald, dass mein Allheilmittel diesmal nicht wirkte. Im Gegenteil. Während
der allmählich stärker werdende Regen auf meine Kapuze prasselte, verfiel ich
so langsam in eine Art Trance, die all die Gewissensbisse, die ich gestern
noch so erfolgreich verdrängt hatte, wieder aus meinem Unterbewusstsein
hervorrief und mit jedem Schritt, den ich tat, verstärkte, bis ich es
schließlich nicht mehr aushielt. Warum nur machte ich mir über diesen blöden
Typen, der mir immer nur auf die Nerven gegangen war, solche Gedanken? Warum
konnte ich ihn nicht einfach vergessen, wie alle anderen auch? Was hatte er nur
an sich, dass er sich immer und immer wieder in den Vordergrund drängte?
Irgendwann
konnte ich nicht mehr. Entnervt ließ ich mich auf eine niedrige Steinmauer, die
neben der Straße verlief, sinken. Ich hatte keine Ahnung, wo ich mich befand,
aber vermutlich hätte ich sowieso nichts wiedererkannt, selbst wenn ich schon
einmal hier gewesen wäre. Vor meinen Augen verschwamm alles, ebenso wie in
meinem Kopf. Das einzige, was ich ununterbrochen hörte, waren meine letzten
Worte an Arik: Finster und böse. Finster und böse. Finster und…
Ein plötzliches
ohrenbetäubendes tiefes Dröhnen ließ mich abrupt zusammenfahren. Erschrocken
blickte ich hoch. Direkt vor mir ragte der trutzige Turm einer alten Kirche
auf, und das Dröhnen stammte von den Glocken über mir. Als ich mich umblickte,
sah ich ein paar vereinzelte Gestalten aus verschiedenen Richtungen auf die
Kirche zusteuern, und irgendetwas trieb mich dazu, aufzustehen und ihnen zu
folgen. Im Innern des Gebäudes hörte man die Glocken nur noch gedämpft, und
zugleich mit ihnen schienen die schweren Kirchentüren auch alle anderen
weltlichen Geräusche vollkommen auszuschließen. Die Kirche war nur schwach
gefüllt, und es herrschte eine feierliche Stille, die nur ab und zu von einem
Räuspern oder unterdrückten Hüsteln unterbrochen wurde, um sich gleich darauf
umso fühlbarer wieder nieder zu senken. Da ich auf gar keinen Fall
Aufmerksamkeit erregen wollte, setzte ich mich in eine kleine Seitenbank, die
versteckt hinter einer Säule lag. Ich fröstelte in der kalten Kirchenluft,
wobei ich mir nicht sicher war, ob das an der äußeren oder meiner inneren Kälte
lag.
Das letzte Mal
hatte ich eine Kirche betreten, als meine Mutter geheiratet hatte. Dieser Tag
war einer der finstersten meines sowieso nicht gerade strahlenden Lebens
gewesen. Die Braut trug weiß, was ich in Anbetracht ihres nicht mehr ganz so
jugendlichen Alters und der Tatsache, dass sie bereits einmal geschieden war
und seitdem auch nicht gerade jungfräulich gelebt hatte, einfach nur peinlich
fand. Ich trug schwarz, wie so oft. Ich sah keinen Grund, meine Lieblingsfarbe
ausgerechnet für diesen Anlass abzulegen, obwohl – oder vielleicht gerade weil
– meine Mutter sich rasend darüber aufregte und es (zu Recht) als Protest gegen
das ganze Unterfangen verstand. Die Zeremonie kam mir wie eine schlechte Show
vor, und dass die Kirche bereit war, diese Show in Szene zu setzen, ließ meine
Abneigung gegen sie noch steigen.
Ich war kein
gläubiger Mensch. Kirche hatte bei uns quasi nicht stattgefunden. Okay, auf dem
Papier gehörte ich dazu, war auch getauft worden und hatte brav am
Religionsunterricht teilgenommen. Aber die Bibel hatte für mich keinerlei reale
Bedeutung. Sie war einfach ein Buch voller fantastischer Geschichten, die in
einer seltsamen Sprache geschrieben waren. Und genauso erschienen mir die
Rituale in der Kirche: seltsam und überholt und mit keinerlei Bezug zu meinem
Leben.
Ich ließ den
Gottesdienst an mir vorbeirauschen, ohne ihm irgendwelche Aufmerksamkeit zu schenken.
In meiner Bank saß ich wie in einem gläsernen Kasten, abgeschottet von der
übrigen Welt und von den Menschen um mich herum. Als die Feier zu Ende war,
verließen die wenigen Besucher die Kirche, aber auch das registrierte ich kaum.
Ich blieb einfach sitzen.
Alles an mir war
eiskalt. Die Stille wurde ohrenbetäubend. Ich hörte nichts mehr außer meinem
eigenen
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