Hinter der Tür
Vierundachtzigste Straße.
Sie läutete an der Tür zu 12-G, ohne daß ihr geöffnet wurde. Sie klingelte mehrere Male und weigerte sich, die schlimmste Möglichkeit in Betracht zu ziehen. Helen wußte nicht, daß sie unterwegs war. Sie mochte ausgegangen sein, um Milch, Eier, Brot und Schmerztabletten einzukaufen; oder sie schlief, betäubt durch ein Mittel. Gail drückte noch einige Male auf die Klingel und wandte sich ab. Auf halbem Wege zum Fahrstuhl kamen ihr erste Zweifel, und sie überlegte, ob sie den beschwipsten Pförtner bitten konnte, sie in die Wohnung zu lassen. Der Gedanke an die Erklärungen, die sie ihm dann geben mußte, brachte sie davon ab. Helen hätte mit dieser peinlichen Situation leben müssen, solange sie in diesem Haus wohnte. Dann ein neuer Gedanke. Warum nahm sie eigentlich an, daß die Wohnungstür verschlossen war? Natürlich, so mußte es eigentlich sein – diese Stadt hieß immerhin New York. Aber Helen war in solchen Dingen sehr unachtsam; sie ging zu unmöglichen Zeiten allein von der Kunst-Liga nach Hause, wobei sie einladend die Handtasche schwenkte und damit ein Schicksal herausforderte, das ihr Gottlob bisher erspart geblieben war.
Gail kehrte zur Tür der Wohnung 12-G zurück und griff nach dem Knopf.
Die Tür war offen.
Gail betrat den schmalen Flur und sah den vergoldeten Buddha. Helens Heimgott diente als Stütze für einen Bogen Zeichenpapier. Noch ehe sie die Worte entziffern konnte, wußte Gail, daß diese Nachricht für die nächste Person bestimmt war, die durch die Wohnungstür kam. Ihre Hand zitterte, als sie den Bogen hochnahm.
Kritzelei mit einem Filzstift. Tut mir leid!
Helens Handschrift, die kräftigen Züge ihrer Schrift, kühner und kräftiger als der Strich ihrer Zeichnungen.
Tut mir leid! hieß es auf dem Papier. Dies ist der einzige Ausweg für mich. Allein Helen ist schuld.
Gail legte den Bogen hin und sagte: »Helen?«
Sie wollte sich nicht eingestehen, daß sie damit ihren Atem verschwendete.
Sie ging ins Wohnzimmer – leer. Sie betrat das Schlafzimmer. Es war ebenfalls leer, aber die Tür zum Bad stand weit offen.
Gail ging darauf zu, entschlossen, nur das sterile Innere zu sehen – die weißen Fliesen und das Porzellan und Chrom.
Bitte! flehte sie lautlos. Bitte.
Aber Helen war da.
Sie war über die Badewanne drapiert und trug ein weißes Baumwollnachthemd, das ihr Blut wie eine Gazebandage aufgesaugt hatte und überall bis zum Saum mattrote Streifen und Flecken aufwies. Das Blut auf dem Kachelboden, das Blut, das noch langsam auf den Badezimmerabfluß zuströmte, war dagegen rot, grellrot. Die Quelle des roten Flusses war das linke Handgelenk. Der rechte Arm war offenbar ebenfalls eingeschnitten, hatte aber nichts mehr zu geben; diese Hand hing außerhalb der Wanne. Ganz in der Nähe der gekrümmten Finger lag ein schimmerndes Stahlrechteck, dessen Kante verfärbt war. Es war erstaunlich, wie viele Details Gail wahrzunehmen vermochte; sie konnte fast den Namen des Herstellers auf der einseitig geschärften Klinge erkennen. Wo blieb das gestörte Sehvermögen, das einem Schock folgte? Warum konnte sie diese hellrote Realität nicht verschwinden lassen? Was war aus der kostbaren Gabe ihrer Kindheit geworden, aus der Fähigkeit, den Anblick schrecklicher Dinge zu verdrängen? Warum sah sie dies alles und schrie?
»Gail! Gail!«
Zwei feste Hände an ihren Oberarmen. Sie erkannte, daß sie wohl doch einen Augenblick der Amnesie durchgemacht hatte, denn sie erinnerte sich nicht an Vanners Ankunft. Jedenfalls stand er jetzt vor ihr und schüttelte ihr die Hysterie aus dem Körper, so wie es auch Mrs. Bellinger getan hatte. Vor ihr stand ein Arzt, greifbar und beruhigend, und sein Anblick stimmte sie dankbar. Was hatte ihr Helen doch gesagt? Gott segne jedes Haar in seinem Bart…
»Sie ist tot«, schluchzte Gail und klammerte sich an ihn. Sie brauchte die Stütze seines Körpers, um sich auf den Beinen zu halten. »Sie hat sich umgebracht, sie hat es wirklich getan! Wir sind zu spät gekommen … zu spät…«
»Ich hätte Sie nicht allein herkommen lassen dürfen«, erwiderte er, und sie erkannte, daß sein Schmerz weniger Helen galt als ihr. »Ein schrecklicher Fehler von mir, Gail! Ich bin Ihnen sofort nachgefahren, als ich den anderen Patienten losgeworden war.«
»Hätten wir das noch verhindern können?« fragte Gail. »Hätten wir überhaupt etwas tun können?«
»Hören Sie auf, sich in diese Fragen mit einzubeziehen!« sagte
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