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Hinter der Tür

Hinter der Tür

Titel: Hinter der Tür Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Slesar
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Ärger. »Natürlich. Ich hatte das Telefon nur versehentlich eingeschaltet gelassen, sonst hätte sich der Antwortdienst gemeldet… Ich bin in etwa einer Viertelstunde fertig, dann unterhalte ich mich mit Ihnen, einverstanden?« Gail hörte ein nachdrückliches Summen im Telefonhörer, das sich nach einer weiblichen Stimme anhörte. Die Laute wurden schriller.
    »Das ist absoluter Unsinn, Helen! Sie machen das doch nur, um Mitleid zu erwecken.«
    Als Gail den Namen hörte, richtete sie sich auf.
    »Ich lüge Sie nicht an«, sagte der Arzt im Tone elterlichen Tadels. »Ich will ganz offen sein, die Patientin ist Ihre Freundin Gail, und ich werde ihr nicht die Aufmerksamkeit entziehen, für die sie mich bezahlt.« Jetzt wirkte Vanner nicht nur ärgerlich, sondern auch besorgt. »Helen, bitte hören Sie mir zu! Ich kann jetzt unmöglich zu Ihnen kommen. Wenn ich mit Gail fertig bin, kommt noch ein Patient. Legen Sie sich hin und denken Sie an gar nichts, schließen Sie einfach die Augen und entspannen Sie sich … Ja, so schnell ich kann. Das ist ein Versprechen.«
    Er legte auf, doch die Falten auf seiner Stirn hatten sich vertieft.
    »Helen Malmquist?«
    »Ja. Sie wollte, daß ich sie besuche. Ich sollte einfach alles stehen und liegen lassen und zu ihr kommen.«
    »Was ist los?«
    »Sie ist deprimiert. Ich weiß nicht, ob Sie in letzter Zeit mit Helen gesprochen haben, aber sie hat eine große Enttäuschung erlebt. Mit einem jungen Mann.«
    »Ja, ich weiß. Larry.«
    »Dieses Ereignis scheint ihre alte Unsicherheit wieder geweckt zu haben. Offen gesagt ist das für uns beide eine Art Rückschlag.« Vanner zupfte an seinem Bart – die einzige nervöse Geste, die er sich je gestattete. Dann sah er Gail an und sagte: »Ich dürfte Ihnen das eigentlich nicht erzählen, aber da Sie ja mit ihr befreundet sind – es gab eine Zeit, da war Helen Malmquist…«
    Er stockte, und sie schaltete sich ein: »Ich weiß, was Sie sagen wollen. Helen hat mir selbst davon erzählt – von ihrem Selbstmordversuch.«
    »Ich bin sicher, daß sie sich nicht so weit zurückentwickelt, aber wenn jemand auch nur andeutet, daß er sich das Leben nehmen will, bin ich geneigt, ihn ernst zu nehmen.«
    Gail hielt den Atem an. »Hat sie das eben gesagt?«
    »Nein, nicht so direkt. Sie redete ziemlich wirr durcheinander. Vielleicht hat sie etwas genommen, Alkohol oder Gras oder sogar Betäubungstabletten. Ich weiß es nicht.«
    »Aber das ist ja fürchterlich! Sollten Sie nichts unternehmen?«
    »Ich glaube nicht, daß ich schon die Polizei anrufen muß oder so.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Und ich erwarte wirklich noch einen Patienten, jemanden, dem es fast so mies geht wie Helen. Ich wäre ungern fort, wenn der Mann kommt, obwohl ich den Termin wohl verschieben könnte.«
    »Ob es etwas nützt, wenn ich mal bei ihr vorbeischaue? Nur um zu sehen, ob alles mit ihr in Ordnung ist?«
    »Das ist nett von Ihnen.« Er lächelte geistesabwesend. »Aber Sie kommen für Ihr Geld ohnehin schon zu kurz.«
    »Nein, wirklich, ich täte es gern!«
    »Also gut. Ich bin sicher, daß Ihre Gegenwart sie beruhigt. Machen Sie ihr einen Tee oder Kaffee und beruhigen Sie sie. Reden Sie mit ihr über Filme, Frisuren – irgendein triviales Thema. Ich komme sofort rüber, wenn ich den anderen Patienten losgeworden bin.«
    »Vielleicht ist es eine ganz gute Therapie, anderen Leuten zu helfen«, sagte Gail leichthin. »Anonyme Neurotiker.«
    »Vielleicht«, sagte Dr. Joel Vanner.
    Der Fahrstuhl in Helens Haus bewegte sich nur ruckhaft, und die Plastikwände der Kabine sonderten Feuchtigkeit ab. Gail dachte: Wenn ich hier wohnen müßte, wäre mir auch mies. Aber natürlich lebten in dieser Stadt viele Menschen in schlimmeren Quartieren. Gail war die Last der Armut erspart geblieben, die sie auch nicht kennenlernen würde. Sie machte sich klar, wie selten sie an diesen Umstand dachte. Und an die anderen Vorteile. Sie sah ein feuchtverschwommenes Spiegelbild ihres pfirsichfarbenen Voilekleides an der schimmernden Kabinenwand und dachte: Ich bin eine anziehende Frau. Das weiß ich. Sogar hübsch, verdammt! Und ich habe keine Zipperlein oder Krankheiten oder Entstellungen. Warum gehe ich dann mit so vielen schwarzen Wolken durchs Leben? Warum? Es war ein seltsamer Ort für einen Blitzstrahl der Erkenntnis, doch genau das schien ihr jetzt zu widerfahren – auf halbem Wege zwischen dem elften und zwölften Stockwerk im Wohnhaus an der Ecke West End Avenue und

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