Hinter der Tür
Vanner. »Helen war einzig und allein meine Verantwortung, und ich bin damit nicht fertiggeworden.« Er löste sich sanft von ihr und drehte ihr Gesicht herum, so daß sie die Leiche nicht mehr • anschauen mußte. »Aber wenigstens kann ich Sie jetzt aus der Sache heraushalten. Gehen Sie nach Hause, Gail. Ich melde den Vorfall allein. Es gibt keinen Grund, warum Sie da mit hineingezogen werden sollten.«
»Ja«, flüsterte sie. »Ich könnte das nicht ertragen. Es wäre zuviel, jetzt noch mit der Polizei zu sprechen. Ich möchte nach Hause – nichts weiter.«
»Und ins Bett«, sagte er bestimmt. »Sie können das als ärztliche Anordnung auffassen. Gehen Sie ins Bett, nehmen Sie eine der Pillen, die ich Ihnen verschrieben habe, und rühren Sie sich nicht von der Stelle, bis Sie morgen früh von mir gehört haben. Verstanden?«
»Ja«, sagte Gail, doch sie ließ seine Jackenärmel nicht los. Er sah sie fragend an, dann beugte er sich vor und legte seine Lippen auf die ihren. Es war mehr eine Tröstung als ein Kuß, doch die Berührung hatte eine beruhigende Wirkung auf sie. Sie verließ die Wohnung und ging auf den Fahrstuhl zu, wobei sie noch leise Vanners Stimme hörte, der bereits mit den Stadtbehörden telefonierte, die es gewohnt waren, das Schreckliche als statistische Realität zu nehmen.
Sie begann erst wieder zu weinen, als sie zu Hause war, und Mrs. Bellinger bestand trotz ihrer entzündeten Fußballen darauf, sie ins Schlafzimmer zu führen und zu warten, bis das Mittel zu wirken begann. Gnädigerweise war das schnell der Fall.
8
T räume:
Fahrradfahren auf einer dunklen Landstraße mit dem verzweifelten Bemühen, die Räder auf der leuchtend weißen Linie zu halten, schwarze Ulmen, die sich ruckelnd über der Straße wölbten, ein endloser Tunnel aus Bäumen, der sich in die Ewigkeit verengte …
Ein Mann, der ihr im Nichts über eine Straße folgte; sein zerschlissener Tweedmantel war so lang, daß er auf dem Pflaster schleifte; das ausdruckslose Idiotengesicht an ihrem Halsansatz, eine heisere Stimme, die ihr Obszönitäten ins Ohr flüsterte …
Ein Zimmer mit kalkweißen Wänden und ohne Möbel, ein krachendes, reißendes Geräusch, Putzbrocken lösten sich von der Decke und rieselten auf sie herab; kummervolles Weinen, weil ihr Ausgehkleid beschmutzt war, der Ruf nach der Mutter, ihre Schritte im Flur, die Erkenntnis, daß gar keine Tür zu sehen war, daß es keinen Zugang, keinen Ausgang gab; das Hämmern an die Wände, weinend …
Gail öffnete die Augen.
Keine Landstraße, keine Straße, die ins Nichts führte, kein kalkweißes Zimmer.
Sie lag sicher in ihrem Bett. Ironischer Gedanke: warum fühlten sich Leute im Bett sicher? Krankenbett, Totenbett, nicht auf Rosen gebettet. Betten, in denen
Alpträume hausten. Versuchte sich an die Einzelheiten des Traums zu erinnern, was ihr nicht gelang. Versuchte eine Bedeutung zu finden, wieder vergeblich. Das war ja auch Vanners Aufgabe, redete sie sich ein. Die Symbole zu entschlüsseln. Die Ängste zu entziffern. Wieder schlössen sich die Augen. Zurückschweben an den Rand der Dunkelheit.
Sie war fast am Ziel, war fast im Reich des Unbewußten, doch etwas riß sie zurück.
Ein Geräusch.
Sie bewegte sich nicht. Sie lag reglos da und wünschte sich, die Ohren ebenso leicht schließen zu können wie die Augen.
Da war es wieder.
Langsam drehte sie sich im Bett um, zog sich ein Bettlaken um den Körper (Todeslaken, Gedanken an den Tod) und rückte langsam zum Kopfende, wobei sie sich auf die Decke des Schlafzimmers konzentrierte.
Aber das Geräusch kam nicht vom Boden.
»Mrs. Bellinger?«
Ein leises Klopfen.
»Sind Sie das, Mrs. Bellinger?«
Sie verließ das Bett, ging zur Tür und öffnete die Verriegelung. Sie blickte auf den Türknopf und rechnete damit, daß die Haushälterin von der anderen Seite aufmachen würde, aber nichts geschah. Sie kam zu dem Schluß, daß sie sich irrte. Wieder einmal hatte sie sich irreleiten lassen, wieder war sie durch den großen Zauberer Schall hereingelegt worden. Na gut, dachte Gail. Sie wollte den Knopf selbst drehen und den Zauberer zufriedenstellen.
Sie öffnete die Schlafzimmertür.
Draußen stand Helen Malmquist in ihrem blutbespritzten Neglige. Auf den ersten Blick schien sie nicht mehr als eine stehende Leiche zu sein. Aber dann wurden langsam die rotverschmierten Ärmel angehoben, und die totenweißen Hände, die schlaff an den tief eingeschnittenen Gelenken baumelten, streckten sich Gail
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