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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Butterbrot gestreut, und es hätte herrlich geschmeckt, das Brot, und hier, er könnte
     ja an ihren gefärbten Fingerspitzen sehen, man sollte beim Beerenwaschen äußerst vorsichtig sein. (Es waren dies nur Worte
     der Aufmunterung, ihr tat der Gitarrist leid, der fast reglos in der Sonne ausharrte. Abwartete. Er würde eine Stunde brauchen,
     bis es ihm mißfiele, daß ihm die Ameisen über und zwischen die Zehen krochen. Natürlich würde der Kubaner, sobald er wach
     wurde, einen Zinnkübel Wasser über sein Haupt schütten – er hatte es oft genug getan.)
    Ferda las in der deutschen Bedienungsanleitung und erklärte dem Gastgeber, wie man die Brennstoffbehälter des Spirituskochers
     auffüllte, dann rief der Komponist nach ihm, und zu seiner Verwunderung stieg auch die junge Frau ins Auto ein. Auf der Fahrt
     nach Neuhaus am Teich Vajgar sprach Aneschka mit ihrem Vater über ihren Traum, in dem sie dünne blonde Haare von Männerpullovern,
     von Kissen und Decken und sogar von der Tapete gezupft hatte, könnte er diesen Traum deuten? Ich könnte es, sagte Lujza und
     steckte ihren kleinen Kopf zwischen die Vordersitze, es ist eine symbolische Haushaltsauflösung, du trägst nicht den alten
     Hausrat hinaus auf die Straße, du zupfst die Haare eines fremden Menschen, die abgefallenen Haare einer anderen Frau, und
     hättest du zu Ende geträumt, hättest du die Haare zu einer Locke gezwirbelt oder sie einzeln in den Wind gehalten … War es
     unstatthaft von ihr, sich in anderer Menschen Träume zu begeben? Auf ihre Worte folgte eine Stille, die sie rochen wie schlechte
     Luft, und da man Lujza nicht dankte für ihre Deutung, drückte sie sich gegen den Wagenschlag und spielte mit dem abstehenden
     Faden an der Rocknaht.
    Sie fuhren durch gottverlassene Dörfer, und da der Komponist vor den Temposchwellen viel zu spät abbremste, mußtensich Ferda und die beiden Frauen festhalten. Antonin parkte das Auto auf dem Gelände eines ehemaligen Jesuitenwohnheims,
     sie schauten sich um, kein Wächter rannte herbei, um sie fortzuscheuchen, kein Angestellter des Hauses verwarnte sie, und
     also gingen sie die Komenskistraße hinunter zum Friedensplatz. Ferda blickte kurz zu der Säule, die zur Verherrlichung eines
     katholischen Dogmas errichtet worden war. Die Herren der Stadt, so hatte ihn der Tenorbaßsaxophonist aufgeklärt, haben den
     Knechten alles Leben aus den Leibern herausgepreßt, fast alles Leben, und dann luden sie die armen Seelen zu Armenspeisung
     ein, sie durften einen Weizengriesbrei löffeln, die feisten Wohltäter preisen, und schon scheuchte man sie wieder weg und
     zurück zum Dienst am Herrn und an den Herren. Die Fronvögte von einst verfluchte man heute nicht etwa als Schinder, nein,
     man huldigte ihnen wie großen Schicksalsgöttern. Wie gern hätte Ferda in diesem Augenblick einen Schrei ausgestoßen, wie gern
     wäre er ausfallend geworden, doch die Hitze setzte ihm zu, und er folgte einfach dem Komponisten, der ihm die größte mechanische
     Weihnachtskrippe der Welt zeigen wollte, die aus eintausenddreihundertachtundneunzig Stücken bestand. Der Strumpfstickermeister
     Tomás Kryza hatte sie aus Holz, Papier, Glas, Zelluloid, Stroh und Keksen geformt und sie mit einem Klebstoff aus Mehl, Sägespänen,
     Gips und Leim verkittet. Sie standen also vor dem Schaufenster im ersten Stock des Stadtmuseums, sie starrten auf die kleinen
     Figuren, die ein Strumpfsticker in seiner freien Zeit gebastelt hatte, das Hell und Dunkel eines ganzen Tages wurde über das
     Licht von Dutzenden von Punktleuchten nachgeahmt, und als die Leuchten der Krippe erloschen und das Raumlicht anging, entdeckten
     Antonin, Aneschka und Ferda die rote Schrift am Schaufenster. Die Museumswächterin schrie auf und drängte die Touristen aus
     dem Krippensaal, sie verließen das Gebäude über einen Seiteneingang, bogen um zwei Ecken, bis siewieder zum Friedensplatz gelangten, und dort, neben einem kindsgroßen Terrakottatopf, stand Lujza und ließ sich mit geschlossenen
     Augen von der Sonne bescheinen. Bald waren sie und der Komponist in einen Streit verwickelt, Aneschka übersetzte auf Ferdas
     Drängen hin, daß Lujza zugab, mit ihrem Lippenstift die Worte ›Rekorde sind lächerlich‹ geschrieben zu haben, Antonin warf
     ihr Sündenstolz vor, sie nannte ihn einen Mann, dem wohl das Mucksmäusertum über alles ging, mit ihrer kleinen Untat hätte
     sie sich doch einfach nur geweigert, vor der Pappkrippe zu erstarren

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