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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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wirklich zulassen, daß immer mehr Mitwisser ihn zur Seite drängten, und würde er nicht am Ende leer ausgehen? Jacek
     und er kannten sich in dem Kinderspiel aus, um der Witwe und anderer Frauen Gunst zu buhlen, und man hielt den einen für den
     Nebenbuhler des anderen, in Wahrheit aber … die Wahrheit war doch nur eine Wolke im Himmel.
    Und also sah er sich wenig später an der Seite der Damen Vlasta und Wislawa lustlos dahertrotten, er hatte auf eine Taxifahrt
     bestanden und war überstimmt worden, und da er im Nebel ging, wurde sein Gesicht feucht, seine Ohren und sein Hals wurden
     feucht, dies blasse Weiß der Ungestümen, der Herz- und Heißblütigen nahm ihm das Hochgefühl, das ihn bis vor kurzem glühen
     ließ, es kam ihm vor, als legte sich Kreidestaub auf alles, was ihn umgab, und es hob auch nicht seine Laune, daß die Dame
     Vlasta immer wieder einen deutschen Abzählreim aufsagte: Eins, zwei, drei, vier/Deinen Daumen quetsch ich dir – sie hatte
     es übersetzt, und Edison fragte sich, was das für Kinder waren, die bei dem Gedanken an Daumenquetschen vor Freude quietschten.
    Sie gingen am Rathausturm vorbei und betraten gegen seinen ausdrücklichen Wunsch die Tuchhallen, die Witwe wollte ihre Freundin
     herumführen, an den Ständen Krempel Schund Tinnef, und trotzdem kaufte die Dame Vlasta einen Wanderstock und eine Flasche
     schwarzen Johannisbeersaft, trotzdemblieb sie vor den ausgelegten Waren stehen und verfing sich schließlich im Netz eines Schattenrißschneiders. Das war ein junger
     Maler mit einem seltsam schiefen Gesicht, er sah aus, als wollte er sich die Brust aufreißen und das pochende blutrote Herz
     zeigen. Edison drängte zur Eile und wurde aber wieder überstimmt, und der Maler mit dem Gesicht einer Passionsspielfigur verstellte
     die Stehlampe und übertrug die an eine weiße Wand projizierte Profilsilhouette auf das schwarze Kartonpapier auf seinem Schoß,
     er schaute gelegentlich zur Wand und riet der Dame Vlasta, den Atem nicht anzuhalten, er fragte sie, ob er an dem eingefangenen
     Schatten ihres Kopfes und ihrer Brust Schönheitskorrekturen vornehmen sollte, sie hätte zwar kein Doppelkinn, aber er könnte
     auf dem Papier den Hals straffen, eine Haarpracht herbeizaubern oder die Brustpartie … phantasievoller gestalten.
    Die Witwe unterbrach ihn und wies ihn an, in seiner Kunst das Lügnerische nicht zuzulassen, der Maler schwieg erst ob der
     barschen Unterweisung, dann sagte er leise: Die Lüge lebt. Es ist nicht schlecht, daß wir unser Leben mit kleinen Lügen verschönern.
     Wieso mußte es geschehen, weshalb wurde die Witwe philosophisch, warum stritt sie jetzt mit dem Kartonschneider? Edison klopfte
     auf das Glasgehäuse seiner Armbanduhr und rollte mit den Augen, er war machtlos gegen die ungestüme herz- und heißblütige
     Wislawa, der es große Lust zu bereiten schien, einen Touristennepper zum Glauben an die kleine Wahrheit zu bekehren, eine
     Wolke machte der nächsten Wolke Platz, und kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, fauchte sie ihn an, ein Mann, der die
     Zeitumstellung verschlafen hätte, müßte vor den Frauen schweigen.
    Edison dachte nach, fragte zwei Markthallenbesucher nach der Uhrzeit, und tatsächlich, er hatte die Uhr in der letzten Nacht,
     in der Nacht von Samstag auf Sonntag, nicht eine Stunde zurückgestellt, und dies unwichtige Versäumnis brachte ihn dazu, schweigend
     die Muskel zwischen Daumenund Zeigefinger zu kneten. Sind Sie bald mit meinem Schattenriß fertig? sagte die Dame Vlasta. Geben Sie mir die Zeit, die
     ich brauche, sagte der junge Maler und fing an, vorsichtig an der dünnen weißen Umrißlinie entlangzuschneiden. Kreidestaub.
     Kreidestrich. Natürlich verlangte diese Arbeit seine ganze Aufmerksamkeit, und es überraschte Edison, daß der Mann das Wort
     an die Dame Vlasta richtete, er schaute dabei nicht auf, er sprach davon, daß er vor kurzem eine seltsame Illustration gesehen
     hätte, die Nachzeichnung eines Originals, darauf wäre ein sogenannter Allsamenbaum abgebildet, ein Baum, der keine Früchte
     trug, aber Gesichter, eine Magd schüttelte am Baum, und einige Gesichter fielen in ihren geschürzten Rock, ein Gesicht aber
     hielte sie wie eine Fastnachtslarve vor ihr eigenes Gesicht, das nur zur Hälfte verdeckt werde, deshalb könnte man auch erkennen,
     daß sie lächelte, und genau dies Lächeln wäre auch in alle Gesichter auf dem Bild eingezeichnet – ein Rätsel, ein Bild voller
     Rätsel, das

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