Hinterland
Bindfadenfallen der Tautröpfchen
erzählt, um hernach einen harten Bruch zu wagen und von der Rotfärbung von großen Vögeln zu sprechen, dann aber schrie sie
gegen die laute Musik an und sagte: Ein Daumengroß ist auf meinem Handteller seilgesprungen; es hat Moosfäden aneinandergebundenund sprang darüber genau hundert Male, es schaute mir dabei in die Augen und bat mich zu ergründen, wieso so viel Moos an
seinem Kleid hängenblieb – ich konnte das Rätsel nicht lösen.
Die Dame Wislawa streifte eine dünne unsichtbare Haut ab, so kam es ihr jedenfalls vor, ab diesem Augenblick hielt sie ihre
gute Freundin für wunderlich, für leicht verrückt, für eine Person, bei der sie darauf achtgeben mußte, was sie sprach und
was sie verschwieg. Jetzt griff sie zu einer Riechbüchse, zupfte mit spitzen Fingern das Lavendelschwämmchen heraus und roch
daran, sie massierte sich das eingeschlafene Bein und verstrickte ihre Prager Freundin in eine Unterhaltung: über die Halunken,
die zu Hause Modemagazine in kleinen Stapeln auf niedrigen Tischen übereinanderlegten und die Putzfrau anwiesen, nicht nur
die oberste Staubschicht abzuwischen. Über Essig, Zucker und Spülmittel, die man in einer tiefen Schale zusammenrührte, die
Obstfliegen wurden angelockt und ersoffen. Über trudelnde Flugzeuge, die in Windwirbel gerieten, über die bleichen Passagiere,
denen die Todesangst eingab, nach einer geglückten Landung nicht länger in der Nachahmung anderer Leute Leben zu veröden …
Die Dame Vlasta hatte zwei Jahre verstreichen lassen, um ihre Freundin zu besuchen, Wislawa trug immer noch Schwarz, nein,
das stimmte nicht, sie trug eine schwarze Seidenbluse, um die vornehme Blässe ihres Teints zu unterstreichen: Der Tod ihres
Mannes hatte sie nur wenige Monate betrübt. War sie deswegen ein schlechter Mensch? Sie garantierte jedem Gast, daß keiner
ihre Gastfreundschaft zu einem anderen Preis erhielt als eben dieser bestimmte Gast, das alles klang sehr dramatisch und geschäftlich,
das alles verwirrte sie, und sie dachte darüber nach, ob sie ihren Besuch in Krakau bereuen sollte. Sie traute sich auch nicht,
ihre Freundin darum zu bitten, den Pegel auf Zimmerlautstärke herunterzudrehen, man spielte klassische Musik auf Bahnhofsvorplätzenin Deutschland, um die Obdachlosen zu vertreiben, doch der Lärm vertrieb auch Frauen wie die Dame Vlasta. Das alles – das
alles war zuviel für sie.
Da aber klingelte ihr neues Mobiltelefon, und als sich Karel am anderen Ende der Leitung meldete und einen Liebesschwur sprach,
errötete sie vor den Augen der Witwe, und natürlich mußte sie nach dem kurzen Telefongespräch von diesem Mann erzählen, sie
schrie gegen das Lied an, in dem eine Frau Klageschreie ausstieß, er ist ein Taxifahrer, sagte sie, und auch wenn es ihm anfangs
schwerfiel, an die Existenz von Finna, dem Moosweibchen, zu glauben, hat er wegen der Narreteien dieser Großkäppchen kapituliert,
ich ging mit ihm bis zum Waldrand und wies ihn behutsam ein, hier ein wippender Farnwedel, dort ein rundgeschliffener Kieselstein,
und nach zwanzig oder dreißig Wimpernschlägen begann er daran zu zweifeln, daß es im Wald mit rechten Dingen zugeht. Wir mußten
aber wieder ins Haus zurück, weil er mich unbedingt küssen wollte, und ich wollte es nicht vor den Augen der Daumengroßen
tun …
Die Dame Wislawa starrte sie lange an, diese von ihrem Mann wegen einer Jüngeren verlassene Frau hatte also endlich endlich
einen Liebhaber, vielleicht litt er an ihrem Hang, Sonderbares zu entdecken, vielleicht sprach er sogar darüber mit seinen
Kollegen am Taxistand, aber auch er mußte ein Sonderling sein, denn jetzt erzählte die Dame Vlasta, daß er sich neue Schuhe
gekauft hatte und mit den neonroten Preisschildern auf den Ledersohlen tagelang herumgelaufen wäre – vielleicht fanden zwei
verwandte Körper zusammen.
Die frischen Minzplätzchen. Der schwarze Kaffee. Der Nebel. (Heliodors ehemalige Frau streicht draußen herum, auch an diesem
Abend, auf ihre Spaziergänge kann sie nicht verzichten, da sie sich sonst lange windet, um vergessen zu können. Ein schöner
Zufall, daß sie am Haus der listigen Witwe vorbeigeht, ein Zufall, mehr nicht. Es gab, vor einigen Monaten,eine kurze Begegnung, sie standen nebeneinander an der Totengedenksäule, und beide Frauen flüsterten ihre Gebete vor, denn
es darf keines Menschen Seele unbetrauert in großen Höhen schweben. Jetzt
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