Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
Vom Netzwerk:
Kopf der Bande, der oberste Einflüsterer, wäre auch ein Deutscher … Ich ließ mir diese Geschichte
     noch einmal erzählen, und wieder sprach sie von der umnachteten Dame Vlasta, der man nicht ausreden konnte, Rouge aufzulegen,
     sie strich so viel Rouge auf die Jochbögen auf, daß allen ihr bekannten Frauen bange wurde: Traf sie Vorbereitungen, um zu
     verschwinden? Sehnte sie sich danach, verschluckt zu werden? Der sehr verliebte Taxifahrer hatte sich an den Komponisten gewandt,
     und Aneschka hatte versprochen, es wieder zu richten, es wieder heilzumachen, es zusammenzukleben – ihre Worte.
    Ich wünschte mir ein herrlich Ding, das nicht zerbrach und dessen Scherben man nicht zum Häufchen kehren mußte, wollte Aneschka
     aus diesem meinem Kindertraum ausbrechen, und wenn sie nicht von ihrer Liebe sprechen mochte,war ich dann nichts weiter als ein dummer Schuster, der sich am Grablicht die Hände wärmte? Ich würde nicht gleich aufbrechen
     können, Aneschka hatte mich zwar gebeten, nicht zu trödeln und sie bald in Prag zu besuchen, aber ich wußte, sie wollte lieber
     alleine sein, sie wollte lieber allein in ihrem Zimmer über ihre wenigen gehorteten Lieblingssachen streichen, mit zwei Fingerspitzen,
     mit dem Handrücken, sie berührte die Schutzhülle der Bastelbögen, den giftgrünen Briefbeschwerer in der Form einer Lakritzschnecke,
     die Nadelkissenpüppchen, an die sie Garnschlaufen angenäht hatte, um sie in einer schiefen Reihe an einer Tragesäule aufzuhängen.
     Nur viereinhalb Stunden Fahrt, fünf Stunden, wenn der Zug wie üblich auf freier Strecke stehenblieb; dann wäre ich in ihrer
     Stadt, bei ihr, und sie würde glauben, sie müßte mir zuliebe ihre Unbeschwertheit aufgeben, und ich würde sie aus Verlegenheit
     beschenken und hoffen, daß sie die kleinen, fast unwichtigen Sachen, meine Geschenke, berührte und vielleicht sogar in die
     Hand nahm, wenn ich nicht da war. Ohne Aneschka an meiner Seite glich diese Stadt jeder anderen Stadt am Fluß … ich sollte
     damit aufhören, alles und jeden zu verwünschen.
    Ich hatte mich in einem Hotel am U-Bahnhof Senefelder Platz eingemietet, der Ausblick aus dem Fenster auf eine Baustelle bekümmerte
     mich nicht, auch nicht die gelb verwelkten Blätter, die, vom Zweig gerissen, das Dunkel des Winterabends betupften, dann aber
     fielen sie hernieder, und alles Leuchten verglomm.
    Die Kälte war hinterhältig schnell eingebrochen, ich hatte leichtes Fieber, der billige Wollpullover kratzte überall, ich
     sah weniger als nötig, ich stolperte öfter als nötig. Also gut, dachte ich, mein Meister hat vielleicht doch Verwendung für
     mich, und es ist sinnvoll, daß ich mich in Berlin aufhalte, und ich werde dem Deutschen in Krakau erklären, daß man Damen
     ziehen läßt, es wird sich alles zeigen. In der Wolke über dem höchsten Haus der Kastanienallee sah ich schwarze Risse,und wenige Schritte später stolperte ich über den in gußeisernen Schnörkeln auslaufenden Fuß einer Parkbank, an deren beiden
     Seiten Plastikbottiche standen, sie waren gefüllt mit verrosteten Kronkorken, ich zog die Tüte aus meiner Manteltasche, faltete
     sie auseinander, legte sie auf die Bank und setzte mich hin – ich kam mir vor wie jemand, den man bei seinem Ausbruchsversuch
     beobachtete, und tatsächlich entdeckte ich auf der anderen Straßenseite einen Vermummten, der zu mir herübersah.
    Er bemerkte, daß ich ihn erblickt hatte, und stapfte durch das nur an manchen Stellen festgefahrene Laub der Straße, dann
     stand er unsicher am Plastikbottich, er eröffnete mir, daß ihm nichts ferner lag, als mich zu belästigen, die Gassen wären
     finster, und er handelte mit Mondschein in der Flasche, mit dem Abbild eines blitzenden Krähenschnabels, mit Fetzen und Fitzeln
     aus dünn ausgewalztem Zinn, besser bekannt unter dem Namen Stanniol, mit dem Rot des Kamms eines mageren Hahns, er zählte
     sie auf, seine Liebesstücke, und da ich in der Stimmung war, jedem Wilden zu lauschen, reichte ich ihm die zweite Plastiktüte
     aus meiner Tasche. Er verstand, er strich sie auf der Bank glatt und nahm nach einigem Zaudern Platz.
    Vollmond ist heute, sagte er, alle werden verrückt, die Hirtenhunde beißen die Lämmer in die Kehle, und denen, die das Haar
     geschoren haben, tanzen die Läuse auf den Stoppeln. Keine Angst, wirklich, ich habe mir die Weisheiten nur angelesen, bin
     nicht verrückt, die anderen schon, ich aber nicht. Schau … Und er zog ein Leporello

Weitere Kostenlose Bücher