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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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ihn aus dem Anzug stoßen, wenn er nicht endlich das Chansonettenbrüstchen
     aufißt; und als der Student ihm den Teller zuschob, stach der Wilde mit der Gabel in die Frikadelle, teilte sie in zwei Hälften
     und kaute lange an den großen Bissen. Von einem finsteren Gelaß sprach er, von einem Gelaß, in dem blinde Kellner die Gäste
     bedienten, und der Wirt des Restaurants würde ihm die besseren Küchenabfälle mitgeben, denn nicht das, was man kaufte, sondern
     das, was man fand, wäre entscheidend – er hätte schließlich auch mich, den dämmernden Geist, gefunden, ich sähe nicht aus
     wie ein neuer Berliner, nicht wie ein Geisteskranker, auch nicht wie einer dieser Angeber, die ihre Lokale mit Körben schmückten
     …
    Es gefiel mir, hier im Warmen zu sitzen, das Fieber hatte nachgelassen, nur mein Hals brannte immer noch, also schwieg ich
     und ließ ihn raunen und zischen, und obwohl an den Nebentischen über die Russen gesprochen wurde, die sich in den Westen einkauften,
     verlor der Wilde gerade darüber kein Wort. Plötzlich brach er ab und bat mich um mein Mobiltelefon, er wählte eine Nummer,
     drückte das Telefon an sein Ohr, drückte auf die Aus-Taste, um erneut eine Nummer einzutippen, und diesmal aber hielt er mein
     Telefon an mein Ohr: Ich hörte den Ansagetext eines Anrufbeantworters, die Frau verhaspelte sich mitten im Satz, forderte
     nach kurzer Stille den Anrufer dazu auf, keine Nachrichten zu hinterlassen und aufzulegen.
    Dies war meine Frau, vor drei Jahren gestorben, sagte der Wilde, manchmal ruf’ ich bei mir zu Hause an und lausche ihrer Stimme,
     rührselige Geschichte, ich weiß schon, keine Angst, keine Angst, ich fall’ dich nicht an, das Faltalbum bekommst du morgen,
     hier um dieselbe Zeit, bring zehn Euro mit, komm nicht auf die Idee, bei mir zu Hause anzurufen …
    Ich sollte mich von Kopf bis Fuß waschen, meine Nägel hatten Überlänge, die Handwerker ließen sich die Nägel nicht wachsen,
     meine Gedanken drehten sich um meine Lieblingsstücke, Schustermesser, Absatzhobel, Kantenzieher, Ausweitzange, Glätteisen,
     Schnitteisen, wie gerne hatte ich meinem Meister zugeschaut, wenn er das Oberleder über den Leisten zog und in den Falz der
     Sohle nagelte. Auf der Toilette verwirrte mich das Vogelgezwitscher vom Band, die Wände und der Boden waren mit Mosaiksteinchen
     beklebt, ein apfelgrünes Steinchen lag nah an der Abflußrinne, ich hob es auf, wusch es rein und blank, und als ich an meinen
     Platz zurückkehrte, stand der Wilde vermummt am Tisch und reichte mir meinen Mantel, mitkommen, sagte er, wir ziehen los.
     Der Vollmond machte brausende Geister, ich würde nicht Schaden nehmen, wenn ich ihm folgte.
    Am Rosenthaler Platz stiegen wir in die U-Bahn, wir zeigten einem Mann, den wir für den Kontrolleur hielten, unaufgefordert
     unsere Fahrscheine, am Alexanderplatz stiegen wir um und fuhren Richtung Zoologischer Garten, an der Station Spittelmarkt
     drückte sich eine Urlaubergruppe hinein, eine Frau mit drei oder vier Tüten in jeder Hand trat beiseite und setzte sich auf
     einen Platz am Ende der Sitzreihe gegenüber, sie stellte ihre Tüten auf den Sitz neben sich – sie schien zu warten. Sie sieht
     doch aus wie ein Zauberweib, flüsterte der Wilde, es küßt viele Male am Tag die dicke Kröte, die es in einem Aquarium aus
     dickem Glas gefangenhält, aber es kann sie küssen, so oft es mag, es wird nicht erlöst …
    Was war nur mit ihm los, daß er mir, einem Unbekannten, seltsame Beichtformeln raunte, dies war der Tag meines hohen Fiebers,
     dies war der späte Abend meines Schüttelfrostes, und er konnte mir viele Geschichten erzählen, die ich ihm sofort glauben
     würde, es änderte sich so vieles, und das ewig unversehrte Ding war doch nur eine Fabel, erdacht für Halbstarke und Verliebte,
     wir alle streckten die Köpfe in eine Wolke, ineine Jenseitswelt, in eine Dunkelheit aus verwehtem schwarzen Sand, und unsere Körper blieben zurück, also ließ ich es zu,
     daß meinen Kopf die Wolke aus seinen gezischten Worten verhüllte, Gott behalte sein Himmelreich, sagte er, wir warten nicht,
     bis dürre laublose Bäume grünen, wir leben unsre Tage und behalten jene im Blick, die Übel stiften. Die Frau dort drüben,
     die verdächtige ich, ich hab sie im Verdacht, daß sie Erdklumpen gegen den Mond streut. Daß, wenn sie durchs Land zieht, im
     Umkreis von zehn Gehöften alle Euter leergemolken sind. Daß sie Kälber ohne Strick reitet. Daß sie

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