Hinterland
Morgentau von anderer Leute
Wiesen sammelt und damit ihre Nase bestreicht, damit sie nicht klumpig gerate, wie das bei Zauberweibern geschieht. Wenn du
ihr ins Auge siehst, erkennst du dein verkehrtes Abbild, die Füße dort, wohin der Kopf gehört. Alles verkehrt herum. Was meinst
du, sind die Tüten voll? … Ich glaube schon … Sie sind halb voll mit Socken, fuhr er fort, und halb voll mit Luft, sie löst
zwei Fahrkarten, eine Karte für sich und eine Karte für die Tüten, irgendwann will sich jemand dort hinsetzen, und da zeigt
sie lächelnd ihre Karten vor, sie muß keinem Menschen Platz machen, jeden Tag ein kleiner Sieg, Hunderte Siege in einem Jahr,
in drei Jahren über tausend kleine Siege – deshalb liebt sie die Stadt. Denn in der Einöde hat sie’s nicht ausgehalten, sie
konnte zwar Milch in Blut hexen, sie konnte einen Spinnrocken besteigen und aus dem Schornstein anderer Leute Häuser hoch
in den Himmel sausen. Blauen Schein kann sie, auch in der Stadt, auch hier bei uns, anblasen dem Tageslicht. Daß sie Wachsbilder
knetet und bösen Atem eingibt, daran glauben wir nicht. Daß sie in deinen oder meinen Fußabdruck spuckt und wir den Fuß, den
verfluchten Fuß, nachziehen müssen, daran glauben wir nicht. Ich kenne sie gut, sie gibt sich unbeteiligt, aber laß dich davon
nicht täuschen, sie weiß, daß ich dir ihre Geheimnisse verrate, so wie ich sie für ein Zauberweib halte, so hält sie mich
für einen schlechten Kerl mit einem schlechten Ruf …
Keinen anderen als diesen Stadtpfeifer hatte ich verdient, er war eindeutig nicht bei Verstand, und vielleicht litt auch die
Frau, die der Wilde leise beschimpfte, an einer Gemütskrankheit – es geht zu weit, dachte ich und sagte: Hör auf, sie hat
dir nichts getan, und er sagte: Woher willst ausgerechnet du das wissen? Ich gab ihm das Geld für das Mondscheinleporello,
nein, ich wollte es nicht, nicht morgen und nicht übermorgen, ich stieg allein am Zoologischen Garten aus und schaute mich
eine Weile auf dem Bahnhofsvorplatz um, und auch wenn ich bald vor Kälte zittern würde, ich mußte mich im Freien bewegen,
in der Hardenbergstraße sah ich einige verwahrloste Männer, die mit dem Hut in der Hand herumstehende Studenten um Geld baten,
und ein Blinder schrie im Moment, da ich einen Bogen um ihn machte, von den Miesen und Mürben, sie würden in ihrem Horoskop
zur Mildtätigkeit aufgefordert werden und sich aber darüber hinwegsetzen.
Geschrei, geraunter Haß, Tüten voller Luft. Es paßte, daß mich meine Mutter anrief und zwei Mardergeschichten erzählte; Geschichte
eins: Mein Onkel parkte sein Auto am Hintergarten, die Marder benutzten es als Rutsche, sie zerkratzten den Lack, das ließ
sich der Onkel nicht gefallen und deckte den Wagen mit einer Plane ab. Die Marder waren derart wütend darüber, daß sie die
Plane zerfetzten und das Profil aller Reifen zerbissen, in einer einzigen Nacht. Geschichte zwei: Meine Mutter fütterte ein
streunendes Kätzchen mit Schafskäse, gestern früh standen sie im zerwühlten Garten, mein Vater trat den Rasen fluchend fest,
ein eifersüchtiger Marder hatte sich gerächt. Ich werde nach Polen reisen, sagte ich, es geht um eine rührselige Geschichte,
und ich weiß, du hast Angst, daß mir etwas zustößt im Osten, aber es wird gutgehen, es geht mir nicht schlecht, trotz der
Erkältung, ich bin in Berlin … Sie sagte, sie würde die Ehrbarkeit der Menschen im Osten genausowenig anzweifeln wie die Tugenden
der Menschen im Westen, in beiden Gegenden gäbe es die Traditionund das maßlose Leben nach der Befreiung, ich wüßte doch, was ein gläserner Aromatresor wäre, die Pralinen kämen unter die
Glasglocke, damit ihnen nicht das Aroma entströmte, man hätte den ehrbaren Männern und den ehrbaren Frauen im Osten vor kurzem
die Pralinenhaube zerschlagen, und wenn ich die Nase in den Wind hielte, würde ich die entwichenen Gerüche riechen, die Parfümwinde
in der Luft, über den Dächern der Häuser, in jeder beliebigen Oststadt – sie würden sogar die schwebenden gleitenden aufsteigenden
Seelen vertreiben, ich, ihr Sohn, verblaßte zunehmend, so befürchtete sie, zu der Seele eines mageren Kätzchens, dem die Marder
immer näher kamen, um es totzubeißen; von den wahren Gefahren wüßte ich nichts, bis gestern wäre ich ein Schuster gewesen,
man müßte mich nun, da mir nichts Besseres einfiele, als einen Arbeitslosen bezeichnen, sie müßte
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