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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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auseinander, auf dem ersten Foto war der
     Mond zu sehen, auf dem zweiten ein Buchstabe, wie mit fahlem Licht gemalt, und die Bilderreihe schloß mit einem glühendweißen
     Großbuchstaben, ich konnte den Blick nicht von diesem schönen Licht abwenden. Ich habe den Vollmond im Sucher und den Finger
     auf dem Belichtungsknopf, sagte er, ich bewege die Kamera und zeichnealle Buchstaben eines Namens mit weißer Tinte, die Nacht ist mein Fotopapier, der Mond mein Tintenfäßchen …
    Aus einem offenen Fenster drangen die Stimmen von jungen Frauen, sie sangen im Chor ein altes deutsches Lied, nicht zu laut,
     nicht zu leise, sie sangen sich bestimmt die Köpfe heiß und die Wangen rot; wir standen beide gleichzeitig auf und bogen in
     eine Seitenstraße ein, im Schaufenster eines Ladens sah ich Schutzhüllen für Erstkläßlerschulhefte, auf der Vorderklappe Rehe
     Kirschen Schlitten, weiß auf buntem Grund, und der Wilde blieb plötzlich stehen und richtete seinen Fotoapparat auf den Mond
     am Himmel, und während er weiße Tintenkleckse zu Buchstaben und die Buchstaben zu Aneschkas Namen formte, schabte ich mit
     dem Sohlenrand aus der Fuge zwischen den Pflastersteinen schmutzige Kiesel. Meine Lungen brannten, mein Hals brannte, mein
     Körper schmerzte, nichts Schlimmes, nur eine einfache Verkühlung, ich hatte mich seit acht Tagen nicht rasiert, nichts Schlimmes,
     nur ein kleines Versäumnis, und der Wilde sprach zu mir jetzt, mich aber brachte ein Schwindel zu Fall, und es war für ihn
     keine große Sache, mir aufzuhelfen und mich zu stützen. Ich wollte zurück in mein Hotelzimmer, doch er hielt nichts davon,
     ich humpelte an seiner Seite die Choriner Straße entlang, in der Ferne ragte ein Baukran, überragte die Häuser mit den naß
     glänzenden Dächern, auch als mich ein Hustenanfall schüttelte, löste er sich nicht von mir, und ich achtete darauf, die entgegenkommenden
     dunklen Gestalten beizeiten zu bemerken und ihnen aus dem Weg zu gehen. Der Wilde stapfte drauflos und schien eher willens,
     einen Zusammenstoß zu riskieren, und würden wir beide zu Boden gehen, würde ich liegenbleiben. Ich schwitzte wie ein Lustmörder.
    Heut ist mein Menschentag, flüsterte er mir zu, und bevor ich fragen konnte, drückte er mich durch die Tür eines Lokals, erst
     die guten Leute mit Grippe, rief er mir von hinten zu, dann die gesunden Männer mit einem schwarzen Herz.Sein Gelächter erschreckte die jungen Männer und Frauen an den Tischen und auf den Barhockern. Sie sahen: einen Vermummten,
     der sich einen grauen Wollstrumpf über die linke und einen schwarzen Strumpf über die rechte Hand gestreift hatte, er trug
     zwei leichte Sommermäntel übereinander, er war überraschenderweise rasiert. Sie sahen: einen zweiten Verrückten mit einem
     bleichen Gesicht, Bartschatten, zerzauste Haare. Nach einem Blick auf den Fotoapparat waren sie beruhigt, hier schlichen sich
     keine wirklich ungewaschenen Kerle in eine ihrer warmen Stuben ein, und weil wir Rotwein bestellten, glaubten sie, wir wären
     nur zornig wegen der Kälte, die uns zittern ließ. Die uns fiebern ließ. Die uns den Leichtsinn austrieb.
    An meinem Menschentag bleib ich meistens stumm, sagte der Wilde, aber seitdem ich bei der schönen Franziska bügeln darf, helf
     ich den Schwachen und den Kranken … Wir wurden gebeten, keine Kleidung auf den wachsbetropften Deckel der Nachtspeicherheizung
     zu legen, wir wurden gebeten, kein Zeitungspapier auf dem Tisch auszubreiten und mit einer Nagelschere die Bartüberlänge abzuschneiden,
     alles hätte sie schon gehabt, und nicht alles, aber vieles wäre möglich, und als wir die Kellnerin um eine Schale Erdnüsse
     baten, sagte sie, sie würde sie aber auf die Rechnung setzen.
    Von der Decke hing ein Drosselkäfig aus entdornten Brombeerzweigen herab, der Wilde verriet es mir, er zeigte auf die Körbe
     in den Winkeln und Regalen, neben den Türrahmen und Holzbänken: ein Hopfenpflückerkorb, eine Aalreuse aus Weidengeflecht,
     ein Bienenkorb aus Roggenstroh, ein Nistkorb für Enten, und sogar die hinter dem Tresen ausgestellten Korbflechterwerkzeuge
     wußte er zu benennen, Pfrieme, Fetthorn, Klopfeisen, Rindenschäleisen. Ich fragte nicht, er gab freiwillig Auskunft.
    Wer erlebte in diesem Lokal den Triumph seiner Lieblingssachen?Wann würde es schneien? Warum hielt ich es zu Hause nicht aus und reiste in andere Städte? Was munterte den Wilden auf, daß
     er einem Studenten halb im Spaß drohte, er würde

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