Hinterland
der in dieser finsteren Nacht durch spärlich beleuchtete Straßen strich.
Um nach der Schneeflocke zu schnappen, die sich an seinen Wimpern verfing.
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(Und Aneschka? Über eine Prager Brücke läuft sie, ohne sich umzusehen nach einem Mann, nach einer Frau, und als sie nach
anderthalb Stunden Fahrt mit Bus und Straßenbahn wieder in ihrem Zimmer steht, besieht sie ihre Lieblingssachen, und wie in
der Stadt, so fühlt sie sich auch zu Hause unberührt. Mein Geliebter sollte mich jetzt berühren, denkt sie, und weil es nicht
augenblicklich geschieht, geht sie mit der Hand über den Knauf ihres Bettpfostens, über das Fensterglas, und sie späht hinaus
auf das Betonbollwerk der Neureichen, das an ihren Garten grenzt – sie versinkt, sie taucht ein, sie versinkt. In wenigen
Wochen wird sie die Weihnachtstanne behängen, sie, die herrlich Heidnische, liebt Licht undLametta und den falschen Glanz der Perlen, ihr Glaube an das Fest am Jahresende kommt nicht ohne Girlanden aus. Die Neureichen
von nebenan haben den Baum ins Wohnzimmer gestellt, sie kann an der Tannenspitze eine große grüne Vlieskugel erkennen. In
welchen Städten traut sich ihr Geliebter, der Einladung von Frauen zu folgen?
Dies ist die Stunde, da eine Trennung am möglichsten erscheint. Sie will aber nicht von dem falschen Mann berührt werden,
für keinen blankgeriebenen Groschen dieser Welt. Nicht versinken. Vor dem Ankleidespiegel schminkt sie sich ab, es gefällt
ihr, daß das Licht ihr einen goldenen Umriß auf die Schultern zeichnet. Dann blättert sie in alten Fotoalben, auf vielen Bildern
ist sie als das Mädchen festgehalten, das die meisten Gänseblümchenringe an den Fingern trägt, die anderen Mädchen haben Grashalme
um die Nase gewickelt und lachen wie feixende kleine Teufel. Sie wird ihm ein Foto schenken: sie als Zehnjährige an jenem
Tag, da sie sagte, ihre Seele hätte einen leeren Magen. Daran kann sie sich erinnern.
Und ihr Vater, von dem sie lange gedacht hat, er würde die Hände zu Fäusten ballen und die nebeneinanderliegenden Fingerknöchel
auf weißen und schwarzen Tasten abrollen, ihr Vater, der Klavierkomponist, bat sie damals, sich zu kneifen, sie zwickte ihr
Fleisch, sie spürte fast nichts, der Schmerz kam später, als sie mit vollem Grießpuddingmagen im Kinderbett lag. Sie läßt
das Licht brennen, sie schläft ein.
Und sie versinken alle in Prag – was bedeutet das? Gretá fordert die Männer in ihrem Lokal auf, ihre alten Geschichten zu
erzählen, das erste Mal, daß sie verwundert sind über einen Lippenabdruck, über das dicke Stück Schokoladenstreuselkuchen,
über ihre Lungenflügel auf dem Röntgenbild, über das Nachbarskind, das nicht weiß, wie man Pferdemähnen, Hundeköpfe und die
spitzen Knie der Großmutter streichelt: Die ersten Male ihrer Kunden werden sie fröhlicher stimmen, und sie wird damit aufhören,
auf die Oberlippen der Gesichter inder Illustrierten Väterchens Zwirbelbart zu zeichnen. Und Vilma, die im Frühling für einige wenige Tage verschwand, hat es
sich für sie gelohnt, daß sie wieder aufgetaucht ist? Sie lauscht dem Betrunkenen, sie betrachtet die leeren Weingläser, und
sie überlegt kurz, ob es ein Fehler war, daß sie sich von diesem Mann einladen ließ, und er spricht jetzt von seinem Stolz,
in seinem ganzen Leben hat er keine Zinsgewinne gemacht, er wechselt übergangslos zu seiner Entdeckung: Damit sich die Langstreckenreisenden
nicht auf den Bahnsteigen drängen, würde im Prager Hauptbahnhof die Nummer des Bahnsteigs erst eine Viertelstunde vor Abfahrt
bekanntgegeben …
Vilma verrückt ihren Stuhl und sitzt nun neben Gretá, die Männer nennen sie insgeheim die zu Mädchen Gewordenen in langen
hautengen Ärmeln, sie nennen sie: Atemwolken. Vor allem Libor muß über sie beide nachdenken, er vergißt über diese seine unnützen
Gedanken die letzte und vorletzte Nacht, in denen ihn eine Fotografie aus dem Jahre achtzehnhundertfünfundsiebzig beschäftigt
hat, sie trägt den Titel ›Der Antikenhändler und seine Ware‹. Eine Szene aus Ägypten. Ein dunkelhäutiger Junge kauert vor
einer rissigen Lehmwand, neben ihm aufgerichtet eine in Tuch gehüllte und eine nackte Mumie, der liegende Leichnam steckt
im Körperkokon, nur Kopf und Brust sind frei – wie kommt es, daß ein Tscheche sich in dieses Bild verschaut? Daß er in ein
goldfadenbesticktes Hemd schlüpft, weil er es dem dämmernden Grabräuber
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