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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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legen und ihn heilen, aber es wäre geschwindelt.
     Fritz kann nämlich sehen, er tut das nur, wenn keiner hinschaut. Mein Bruder mußte sich auf den Kleinkram konzentrieren, hier
     draußen, also aß er weiter, der volle Löffel verschwand immer wieder in seinem Mund, bis er ein letztes Mal schluckte, der
     Wachmann war weitergezogen, um die Verstecke und Winkel der Mensa nach Unbefugten abzusuchen, er war streng, er kannte seine
     Aufgaben, doch gehörte er zu den anständigen Ostdeutschen, die sich noch an Knappheit erinnerten.
    Wir zogen unsere Mäntel an und gingen nach draußen, der König hielt die brennende Zigarette an einen Faden, der von seinem
     Ärmelsaum abstand, und als wir an ihm vorbeizogen, zischte er ein obszönes Wort, das meinen Bruder kurz innehalten ließ, aber
     nur kurz, bald darauf, am fast stillgelegten Bahnhof Zoo, aßen wir glasierte Teigringe, er rieb seine verklebten Fingerspitzen
     an der Hose. Er wollte am Kurfürstendamm alleine spazierengehen, vor den Schaufenstern stehenbleiben und die Zahlen auf den
     Preisschildern lesen – es war gut, daß er keine eiserne Regel befolgte an diesem Tag.
    Dies war der Tag, an dem ein Eichelhäher durch das offene Balkonfenster hereinflog, zwei Male einen Kreis beschrieb und wieder
     herausflog. Mit seinen Flügeln hatte er die Decke berührt, immer wieder, rostbraun der Leib, blau die Flügeldecken,und ich suchte jetzt meine Umgebung nach diesem Blau ab, immer wieder war der kleine Vogel zur Decke geflattert, ich mußte
     dieses Geräusch vergessen. Vor meinen Augen nur Dunkelblau am unteren Ende eines Werbeplakats, auf dem eine Geschäftsfrau
     mit einem überraschend frohen Gesicht Zuversicht ausstrahlte; und ein blauer Fetzen Papier, über den die Passanten hinwegschritten,
     bis er an der Sohle eines Mädchens klebenblieb. Ohne Ansehen ihrer Behinderung trafen sich die Drogenverseuchten zwischen
     den geparkten Autos, es waren nicht mehr so viele wie zu der Zeit, da im Bahnhof am Zoologischen Garten alle Schnellzüge haltmachten.
    Ich folgte der heißen Spur meines Bruders, auch wenn er mich davor gewarnt hatte, ich wich auf Seitenstraßen aus und trank
     bei einem Händler eine Tasse Kaffee, er kaufte zu Tageshöchstpreisen Gold, Brillanten, Silber, Perlen, Bruch- und Zahngold,
     sowie komplette Nachlässe. Es hatte sich herumgesprochen, sie wußten es alle. Sag mir, wenn ich helfen kann, sagte der Händler,
     ich habe ein leerstehendes Lager, dort kann er erst einmal unterkommen, meinen alten Rasierapparat kann er auch haben. Während
     er fortfuhr, die Artikel seines für ihn unbrauchbaren Besitzstands aufzuzählen, schielte ich hinaus, in der Hoffnung, daß
     mein freier Bruder den Weg zum Händler finden würde, ich war bei seinem alten Freund aus alten Tagen, bei dem Freund ohne
     kriminelle Absichten. Nach einer halben Stunde fand ich es unschicklich, weiter zu warten und zu hoffen, er steckte mir fünfzig
     Euro zu und bat mich, das Geld mit schönem Gruß an den Bruder zu geben.
    Meine Tatkraft hatte im Laufe der wenigen Stunden nachgelassen. Ich war damit beschäftigt, Platz zu schaffen in meiner Altbauwohnung,
     für eine neue Frau in meinem Leben, ihre Haare kringelten sich nach dem Duschen zu kleinen Locken, und ich durfte fast immer
     daran riechen. Vom letzten Schliff schrieb sie auf der Postkarte mit der Ansicht einer Straße des gotischen Viertels, sie
     müßte sich einen Feinschliff geben,bevor sie mit einem Mann zusammenzog, ich empfand ihre Worte als gezwungen dramatisch – was, in Gottes Namen, machte sie
     in Barcelona? Sie hätte sich um ihren Umzug kümmern müssen, doch statt dessen verschwand sie von einem Tag auf den anderen,
     und dann erhielt ich keinen Brief, aber eine Karte, sie hatte nicht in ihrer üblichen Handschrift geschrieben, sondern in
     verschnörkelten Blockbuchstaben, und sooft ich auch versuchte, sie über ihr Mobiltelefon zu erreichen, wurde ich nur mit der
     Mailbox verbunden. Wo bist du nur? dachte ich, da fiel mir wieder mein Bruder ein: Sollte ich ihn über meine Stadt aufklären?
     In Berlin war die Kälte eine Kunstform, sie war eine Gesinnung, die Berliner Bezähmten taten so, als wären die Touristen,
     die ihre Straßen bevölkerten, dumme Kolonialisten, denen man Glasperlen, verschnittene Anzüge und Hauptstadtschund andrehen
     konnte. Es traute sich keiner, sich zu beschweren, die gesprühten Losungen an den Hauswänden lasen sich wie Schlagzeilen im
     Regionalteil einer Zeitung, und

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