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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Ermüdeten noch nicht zu Aufputschmitteln griffen, die Zeit der Kaffeepause der Straßenkehrer, die Zeit der ersten Zeile der
     Poeten, nachdem sie beim Zähneputzen die Kalkflecken am Spiegel gezählt hatten, es war die Zeit, da sich die Männer und Frauen
     auf den Bahnsteigen wie Brandungsgeröll verteilten und der Abwind der ankommenden Züge die steingewordenen Gesichter umschmeichelte,
     und es war einGesicht darunter, in das keine Regung eingezeichnet war, der kleine Bruder suchte den großen Bruder, und er suchte seine
     neue Freundin in jeder Menge, die er sah, noch war das eine vergebliche Liebesmüh, noch zu früh, um an eine gute Wendung zu
     glauben, der Entlassene ging die Straßen ab, und die fremde Frau hielt Schritt, die Brüder würden sich so bald nicht treffen.
     
    Man sprach vom Eichelhäher als von einem Rabenvogel, und wenn der Unglückshäher auf einer Astgabel saß, traf der Tod denjenigen,
     der ihn gesehen hatte: So ging der Glaube, und die Städter verloren diesen Glauben nicht, sie waren nur etwas verwirrt wegen
     des Lärms, wegen der Motorengeräusche und wegen der Gewalt der Halbwüchsigen, denen es längst nicht mehr darum ging, den richtigen
     Ton zu treffen. Der Entlassene glaubte nur schwach an die Vorsehung, und das auch nur dann, wenn es ihn hart traf. Vögel pickten
     Futter oder saßen auf den Ästen, mehr fiel ihm dazu nicht ein; sie aber hatte einmal den Bürzel einer Goldammer aus einer
     Hecke herausragen sehen, und wenig später, vielleicht sogar noch am selben Tag, hatte sie zum Himmel aufgeblickt, dann war
     ihr Blick zu einer Baumkrone gewandert, in der viele Sperlinge gesessen und getschilpt hatten. Im obersten Stockwerk des sechsstöckigen
     Wasserturms im Prenzlauer Berg wohnte ihre zweitbeste Freundin, und sie besuchte sie eigentlich fast nur deshalb, weil sie
     die Goldammern und Buchfinken in den Bäumen ringsherum hören wollte.
    An einem Freitagabend konnte das Unglück kommen oder ausbleiben, es gab keine Tabletten für Immunität und es gab keine Spritzen
     für Frohsinn, man hatte es der Frau und dem Mann oft genug erklärt, und sie aber wußten es doch. Es zog sie nicht zu den Ständen
     auf dem Breitscheidplatz, ihr Blick ging hoch zur Turmruine der Gedächtniskirche, und dann waren sie schon auf der Tauentzienstraße,
     und sie fand es weiterhinnicht eigenartig, dem Fremden im Kamelhaarmantel zu folgen, still ist man aufmerksamer, dachte sie, er hat nichts Böses und
     nichts Falsches an sich, und als er vor dem Kaufhaus des Westens stand, wandte er sich zu ihr um und fragte sie nach dem Portier.
     Man hatte ihm gesagt, daß die Kunden von einem Einlasser empfangen wurden, sie blieb still und aufmerksam, und um ihre Verlegenheit
     zu überspielen, nahm sie eine Karte vom Fach auf dem Informationstresen, sie las, daß im April eine Wilde-Zwanziger-Nacht
     angesetzt war, der Eintritt kostete hundertfünfzig Euro, und ein sogenannter Charleston-Chic war als Dresscode vorgeschrieben.
    Sie wurde von einem stark geschminkten Mädchen von hinten angerempelt, der Stoß wirbelte sie zu ihm um, sie sagte, sie wäre
     noch nie in ihrem Leben in diesem Kaufhaus gewesen, sie wollte nicht tausend Wurstsorten, sondern höchstens vier oder fünf,
     sie wollte nicht zwischen Hunderten von Weinen oder Tee- oder Käsesorten auswählen müssen. Er nickte ihr zu, mittlerweile
     studierte er den Etagenfaltplan, sie standen auf derselben Rolltreppenstufe, im fünften Stock steuerte er die Spielwarenabteilung
     an, und nachdem sie gegen den Uhrzeigersinn einen Kreis beschrieben hatten, griff er im Vorbeigehen aus dem Spielfigurenregal
     einen berittenen Plastikritter, er stellte sich in der langen Schlange an der Kasse an und bezahlte, dann standen sie auf
     jeder Rolltreppe auf derselben Stufe, kurz vor dem Rausgehen schaute sie sich die auf hohen schlanken Podesten stehenden Schaufensterpuppen
     an: Ihre Gesichter waren an den Seiten zu großen Facetten rasiert und in die Fläche von der Stirn bis zum Kinn Augen, Nase
     und Mund hineinmodelliert worden.
    Sie stieß sich an den hereinströmenden Menschen, und als sie wieder ins Freie schlüpften, wankte sie kurz, nur kurz, denn
     es war der falsche Platz auf dem Bürgersteig, um innezuhalten. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer zweitbesten Freundin
     Anka, sie wählte bürgerlich und sprach oft von demGesindel, das die Hegemonie der Geldklasse angriffe, von den Kerlen, denen nicht Champagner noch Kaviar heilig war – sie
    

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