Hinterland
es galt nur in Berlin als aufregend, eine Cocktailolive oder eine Birne in Rotwein zu essen.
Manchmal stellte ich mich auf die Zehenspitzen, um mich nicht ganz so klein zu fühlen, mich überragten die Ladenfronten, mich
überragten die Busse und Geländewagen und jene deutschen Frauen, die ihren schönen Müttern aus der Wirtschaftswunderzeit sehr
ähnlich sahen. Wo war mein Bruder? Suchte er Streit, wollte er aufmüpfig werden? Ihm lief die Zeit davon, in unserer Zeit
sagte man nicht Pi mal Kongo, wenn man gefragt wurde, ob man sich gut oder schlecht fühlte. Heute sprach man auch nicht von
der Übermacht des unwürdigen Gegners, kaum daß man nicht mehr nur einer von vielen Verbrechern war, wir hier draußen kauften
Luftreiniger gegen den schlechten Geruch, wir waren froh, weil wir den richtigen Fliesenleger kannten, und ein Mann kannte
fast immer eine Frau, die Himbeermousse im Baumkuchenmantel auf zweierlei Fruchtmark bestellte: Fehlerfrei und ohne zustocken. Ich sollte ihm Berlin erklären, es war nicht mehr so wie früher. Ich sollte mit ihr sprechen dürfen, ihre Stimme
hören, im selben Bett schlafen. Ich sollte ihn finden.
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Die Tasche aus abriebfestem Polyester gefiel ihr, der Verkäufer hatte sie unangemessen freundlich behandelt, ihrem Wunsch
nach Preiserlaß entsprochen, und nun kassierte er das Geld und machte sich bereit für den Eröffnungszug, sie aber eilte aus
dem Geschäft. Eine Verzerrung in ihrem Leben ließ sie nicht zu. Sie kaufte eine Currywurst am Würstchenstand in der Nähe,
und weil an allen anderen Stehtischen die Menschen dicht gedrängt und mit eingezogenen Schultern aßen, gesellte sie sich zu
dem Trinker im Mantel, er hatte lange Fingernägel, und mit einem Fingernagel schälte er eine Knoblauchzehe, die spröden Schalen
fielen zu Boden, er versenkte die Zehe in seiner Backentasche. Dann fing er an zu kauen, nahm einen Schluck, einen zweiten
Schluck aus der Bierflasche und schluckte laut die zermalmte Zehe herunter. Ihre Wurst lag unberührt auf dem Pappteller, sie
hatte zu ihm hingesehen und gestaunt, sie tunkte hastig den Zipfel in den Ketchup und begann ein Stück nach dem anderen zu
essen. Kein Wort jetzt, dachte sie, ich bin still, und du bist gefälligst auch still, du ißt deinen Knoblauch, und ich esse
meine Wurst.
Der Mann stellte sich tatsächlich nicht vor, noch warf er ihr heimliche Blicke zu, die Gelegenheit war doch günstig, um das
Wild zu stellen, wenigstens die Flinte anzusetzen auf sie, die sich schön gemacht hatte, wie sich alle Frauen am Tagesanfang
schön machen. Weil nur sie es verstehen, daß man mit Schönheit am Morgen für einen halben Grad Temperaturanstieg sorgen kann.
Der Trinker im Kamelhaarmantel sah nicht aus wie ein Jäger, sie mußte lächeln über ihre heimlichen Gedanken,seltsam nur, daß sie ihn nicht verabscheute wegen seines dicken Bauchs, wegen des Biers um diese Tageszeit, wegen der Knoblauchzehe,
die Wurstesser an den anderen Tischen hatten seine Nähe gemieden. Da wurde er auf sie aufmerksam, er setzte Daumen und Zeigefinger
auf die Mundwinkel und ließ sie in der Mitte der Unterlippe zusammentreffen, wahrscheinlich wollte er sichergehen, daß ihm
kein Krümel und keine Schale im Gesicht klebte, wenn er zu einer Frau sprach.
Er blieb aber stumm, und sie sagte: Es ist Ihre erste Berlinreise, er schüttelte den Kopf und verriet ihr, daß man ihn wegen
illegaler Geschäfte ins Gefängnis gesteckt hatte, für einen Wiederholungstäter wie ihn würde eine lange Haftstrafe vielleicht
die abschreckende Wirkung haben, vielleicht auch nicht … Wieso sprach er so umständlich daher? Also sagte sie: Sie reden blödes
Zeug, und er sagte: Da haben Sie recht. Ausgerechnet in dem Moment, in dem sie das Gespräch auf etwas Leichtes Feines lenken
wollte, stieß er leicht auf, entschuldigte sich aber hastig, und daß er vor Scham rot anlief, stimmte sie heiter, und sie
fand den Würstchenbudenbesitzer lustig, gerade jetzt fiel ihr seine Marotte ein, in freien Stunden auf Friedhöfen herumzugehen,
er war über die Maßen vorsichtig, er wollte nicht aus Versehen auf ein Grab treten; und sie wurde heiter, weil der Trinker
ohne Erfolg versucht hatte, den Bauch einzuziehen, er glaubte, sie interessierte sich für ihn und würde ihn in ein Abenteuer
locken.
Eine Herzerfrischung schwebte ihr tatsächlich vor. Es war die Tageszeit, da die Selbstmörder die letzte Tat scheuten und die
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