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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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darüber hinaus, nach den Regeln der Kleinbürger auf Verwegenheit zu verzichten – doch dazu später.) Sie beschrieb
     einen Kreis um den Stuhl, nein, sie umtänzelte diesen Mann, der höflich grinste und vom Dauergrinsen leichte Kopfschmerzen
     bekam, das merkte er daran, daß er mit der Zeigefingerkuppe die Stelle über seiner Nase massierte, die Hand verdeckte seine
     Augen wie ein Taubenflügel. Er zeigte auf sich und sagte: Vaclav, dann setzte er sich auf den Korbstuhl und lauschte den fremden
     Worten aus dem Munde des hübschen Kindes. Sie war seine Schülerin gewesen, er hatte es nicht bedauert, sie in seiner Klasse
     zu wissen – dieser Satz, den er gedacht, aber Gott sei Dank nicht ausgesprochen hatte, dieser Satz hätte dem Regisseur gefallen.
     Weshalb? Weil er intellektuell klang. Weil man ihn einer sogenannten Assistenzfigur in den Mund legen konnte, einer unbedeutenden
     Person am Rande, die sich gut aus dem Bild herausdirigieren ließ.
    Als die letzte Haarlocke herabfiel, stand der Fremde abrupt auf und küßte sie vor seinen Augen auf den Mund, dann aber lief
     er rot an und fegte die feuchten dunkelbraunen Haarkringel ins Kehrblech.
    Für Vaclav war es der richtige Zeitpunkt, um sich Aneschka zuzuwenden; sie eilte davon und kam sehr bald mit feuchten Händen
     wieder zurück. In der Zwischenzeit hatte er dieschwarzen und weißen Steine auf die Zungen des Backgammonbretts gesetzt, das hübsche Kind und er saßen einander im Schneidersitz
     gegenüber, die Ameise starrte erst herüber und setzte sich dazu, dann fingen sie an zu würfeln und bewegten ihre Steine über
     das Feld. Sie warf fast immer die gewünschte Augenzahl, und so schaffte sie es, ihre Steine in ihrem Heimfeld zu versammeln
     und auszuwürfeln, sie hatte ihn angedoppelt, das nächste Spiel ging knapp an ihn, und auch das dritte konnte er für sich entscheiden,
     zwei einfache Siege, es herrschte Gleichstand. Sie gewann sechs zu zwei, und er war wütend, wütend über ihre Angewohnheit,
     die Steine aufs Holzbrett zu knallen, und wütend, daß sie ihn nicht nur geschlagen, sondern deklassiert hatte. Die Ameise
     grinste wieder höflich, und sie wechselten die Plätze, Vaclav schaute staunend seinem Spiel zu, das einem Amoklauf glich und
     aber immer mit einem Desaster endete. Sein Gipsbein lag auf einem Kissen, und als er sich an der Krücke hochkämpfte, fielen
     ihm Kassenbelege aus der Hosentasche, er hörte ihn zu einer langen Erklärung auf deutsch ansetzen, Aneschka fiel ihm ins Wort
     und erzählte, Ferda würde für seinen Steuerberater die Quittungen sammeln und sie eben in seiner Tasche aufbewahren, um sie
     dann in eine Klarsichtsfolie und die Folie in einen großen Umschlag zu stecken, der Steuerberater erledigte den Rest …
    Das war, auch in der tschechischen Übersetzung, eine Erklärung, wie er sie von einem Deutschen erwartete, ein Tscheche hätte
     sich jegliche Neugier verbeten. Nun versuchten die beiden Männer doch eine Konversation, das hübsche Kind hatte wenig Mühe,
     von der einen in die andere Sprache zu wechseln, es ließ sich erst mehrere Sätze aufsagen und faßte alles zusammen. Also erfuhr
     Vaclav: Der Deutsche liebte Prag und die Prager. Aneschkas Kommentar: Er idealisiert uns. Der Deutsche hatte seine große Liebe
     in dieser Stadt entdeckt – kein Kommentar. Der Deutsche bewunderte dietschechischen Köche und die böhmische Küche, er mußte sich aber nach jedem Verzehr einer warmen Mahlzeit zwingen, aufrecht
     zu gehen, weil ihm das Essen schwer im Magen lag, aber bald würde er mit den Einheimischen gleichziehen und die schweren Soßen
     vertragen können. Vaclav nahm diese Floskeln lächelnd zur Kenntnis, und da sagte der Deutsche, sagte Aneschka: Die Neuen Mechaniker,
     es gibt sie in meinem Land, es gibt sie in eurem Land, sie putzen alle Ideen weg, sie verkünden, daß sie sich allein nach
     der umkämpften Volksseele richten, und wo bleibt aber die schöne Aufregung? Ich habe meinen Mittelfußknochen rechtsaußen gebrochen,
     ein dummes Mißgeschick, also trage ich Gips am Bein und humpele auf der Krücke, ich genieße das Gehen auf euren Straßen trotzdem
     …
    Aneschka schaute ihn an und schaute ihren Lehrer an, sie beide dachten über diese Worte nach und kamen zu dem Schluß, daß
     sie der Ameise nicht recht folgen konnten, er betäubte sie mit irrsinnigen Bekenntnissen, vielleicht, dachte Vaclav, setzte
     er eine Niederlage im Brettspiel mit einem Gesichtsverlust gleich, und er

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