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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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mich, wenn ich an ihn denke, und es schmerzt mich, daß ich vor den anderen dich beschuldige, ihn in
     den Tod getrieben zu haben. Ich habe eine merkwürdige Art, Männer zu mögen, und daß du ein alleinstehender Mann bist, macht
     dich unsympathisch. Ich ließ sie neben mir hergehen und scheuchte sie nicht weg, außerhalb des Theatersaals war ich friedfertig,
     ich sprach mit leiser Stimme, so daß man mich öfter darum bat, das Wort oder den ganzen Satz zu wiederholen. Zehn Minuten
     lange Gespräche: Über ihre Angst, am Valentinstag, dem Tag der Verliebten, von einem anonymen Verehrer einen Strauß Rosen
     zugestellt zu bekommen. Über den Trittstuhl, den sie gedachte, mir nur im Falle guter Besprechungen des Stücks zu schenken.
     Über Tomás. Über die mit Tautropfen benetzte Haut der Schlange im Paradies. Über die teergeschwärzten Gesichter der Sünder
     in der Hölle. Dann gefiel es ihr, manchmal, lächelnd und schweigend auf den vor seiner Loge im Freien rauchenden Pförtner
     zuzulaufen und ihm einen harten Klaps auf die Seite zu geben: Diese Gesten machten sie, die Betörende, schlagartig zum Mann.
    War ich nicht etwa derjenige, der sich Gedanken darüber machen mußte, wie er die Rollen besetzte und daß die Schauspieler
     hart an der Rampenkante das wahre Leben vortäuschten, ohne auszurutschen und ins Publikum zu fallen? Und unter der großen
     Muschelschale, in der Bühnenmitte, die Souffleuse, meine Geliebte des letzten verschneiten Herbstes, sie merkte jede Unsicherheit
     und wisperte ein Wort, einen Satz vor, ihr Beruf machte sie grau, und sie färbte sichdie Haare mal platinblond mal kandiszuckerbraun. Alles Vorkommnisse, auf die ich keinen Einfluß hatte: Ich bemerkte, man
     informierte mich, ich entdeckte. Wer wollte, daß ich ihn bestaunte, mußte auffallen oder sich dem fremden Einfluß – meiner
     Einwirkung – entziehen.
    Und die Betäubende verschwand, sie, die die Lüge von Tomás’ Verderben und meiner Verderbnis in Umlauf gebracht hatte, die
     mit Hunderten von Büchern beschenkte Vilma verlor mit mir die Geduld, ging nach ihrer letzten Szene von der Bühne ab, und
     ich hörte sie von der Abseite rufen, daß sie das anschließende Lob-und-Tadel-Gespräch schwänzen würde. Am zweiten Tag ihres
     Verschwindens bat der Alte darum, mich auf dem Nachhauseweg zu begleiten, ich dachte, er wollte einen zusätzlichen Dialog
     erpressen, doch er sagte einen seltsamen Satz: Eine unsichtbare Windhose saugte die Betrunkenen vom Stuhl, es trifft ganz
     bestimmte Männer und Frauen – ich herrschte ihn an, er fuhr ungerührt fort: In der Karoliny-Svetle-Straße gibt es ein kleines
     Restaurant, das einer gewissen Gretá gehört, sie kommt aus einem kaukasischen Land, man muß darauf achtgeben, daß man nicht
     auf das Muttermal auf ihrer Oberlippe starrt. Vilma wurde dort von einem Bekannten von mir gesehen, sie hat Teigtaschen in
     Feigenform und Feigengröße bestellt, eine Spezialität des Hauses. Nach dem Essen begann sie kaukasischen Kognak zu trinken,
     ein Glas nach dem anderen, und mein Bekannter, der mit ihr am Tisch saß, weil alle Tische besetzt waren, gab es auf, sie,
     nun ja, auf sich aufmerksam zu machen. Sie wissen, wie sie ist, wir alle kennen sie nur ein bißchen, ihr Verhalten kommt mir
     trotzdem sehr ungewöhnlich vor. Sie trank sich in eine Heiterkeit, und um sie in Ruhe zu lassen, begab sich mein Bekannter
     an den Tresen, dort holte er ein Buch hervor, begann darin zu lesen, und er schwört, nicht länger als vier Seiten und einige
     Zeilen der fünften Seite gelesen zu haben, er schaute sich nach ihr um, ihr Stuhl war leer, und sie war weg,ihre Rechnung hat sie nicht bezahlt. Was halten Sie davon? Nichts, sagte ich und lief schneller, und ich dachte: Ich habe
     keinen Grund zur Beunruhigung.

[ Menü ]
     
    In ihrer Dachkammer gab es neun Steckdosen, einen handbemalten flachen Stein auf ihrem Schreibtisch und eine Marionette, die
     an sieben Fäden hing. Ich lag auf der Matratze und vertrieb mir die Zeit mit grundlosem Starren und Zählen, ich zählte die
     an den drei Dachschrägen angebrachten Plakate und Postkarten, dann die von den Balken herabhängenden Rosensträuße, bei jedem
     Luftzug raschelten die trockenen Blätter, dann löste sich ein Rosenblatt, und das leise Krispeln machte mich seltsamerweise
     ängstlich.
    Ich war wieder hergereist und hatte mir gleich am ersten Tag den Fuß gebrochen: Das Wirtshaus im versteckten Winkel, rechts
     neben meinem Hotel,

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