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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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wurde von einem Mann geführt, der stolz auf die zu allen Jahreszeiten beschlagenen Fenster war, ein Schleier
     aus Nikotin und Küchendunst ließ die Köpfe der Menschen auf den Fensterplätzen wie Papierlaternen aussehen, und ich hatte
     hingesehen und bei meinem Schritt von der Bordsteinkante auf die Straße über Aneschka nachgedacht – ihr Namenstag fiel auf
     den dreizehnten Juli, und ich ging in Gedanken all die Geschenke durch, die ich ihr machen wollte. Dann der Schmerz. Dann
     der Gips.
    Morgen würde man mir den Gips aufschneiden, ab morgen würde ich mit einem wadenhohen Plastikgestell laufen müssen, die deutschsprechende
     Ärztin hatte einen Vortrag über die Entlastung des oberen und unteren Sprunggelenks gehalten. Aneschka nannte mich ihren einbeinigen
     deutschen Banditen, und ich fragte sie nach dem Besuch ihres ehemaligen Lehrers, ob es ihn belaste, daß er nicht mehr kleine
     und große Kinder unterrichten könne. In ihm ist eine böse Euphorie,sagte sie, er sieht sich als Insekt und schlägt die Männer, und nur die Männer, Insektengruppen zu.
    Während sie sprach, zog sie die Lippen nach, und auch jetzt, da sie auf einem Kissen am anderen Ende der Dachkammer saß, trug
     sie Lippenstift auf, ihr Vater war in die Stadt gefahren, um sich mit einer Souffleuse zu treffen, sie arbeitete im ›Theater
     am Geländer‹, und weil sie sich unter einer Muschelschale am Bühnenrand verstecken konnte, bekam sie den Spitznamen Ivana,
     die Schildkröte. Keine Nacht verging, ohne daß ich einer Geschichte von einem Menschen lauschte, den der Traumglanz beschien,
     diese Worte sprach Aneschka, und auch jetzt, da sie neben mir lag und ein Lichtpunkt über ihre dunkelroten Lippen wanderte,
     beschrieb sie mir den Traumglanz: Er gehörte in dieser Stadt zu den alltäglichen Dingen wie Luft und Brot und Fingernägel
     und der Hunger nach Schokolade mit Erdnußcremefüllung, er war etwas, worüber sich die Prager nicht wunderten, ich, der Deutsche,
     würde mich zwar wundern, daß im Tschechischen der Zweig Ästchen hieß, ich würde bestimmt glauben, die Tschechen würden immer
     dann verniedlichen, wenn sie ratlos wären, aber aus dem Baumstamm wuchsen eben keine Stämmchen, sondern Äste, doch dem Ast
     entsprossen keine Zweige, sondern Ästchen. Und der Traumglanz? Eine Antwort auf die Glorie der Heiligen, die den Kopf in den
     Nacken legten, verloren in der Schau der Vögel, der Wolken, des Himmelsblaus. Die Dünste der ganz normalen Tschechen, die
     Dämpfe, die ihren nicht wahren nicht unwahren Geschichten entwichen, all das und ein bißchen Geheimnis, das alles war der
     Traumglanz. Ich konnte nicht sagen: Ich verstehe, es hätte sie vielleicht zu Recht gegen mich aufgebracht, viel zu viele Touristen
     und Einheimische, sie träumten nicht, sie glänzten nicht, doch die Seltsamkeiten wogen schwer, sogar für einen angehenden
     Schuhmacher wie mich.
    Und ich dachte: Ich liebe eine Tschechin, auch siesich aus im Seltsamwerden und Merkwürdigmachen, und sie bekommt dann ein schönes leichtes Fieber, ihre Temperatur steigt
     auf knapp achtunddreißig Grad Celsius, ich darf, da sie fiebernd berührbar bleiben will, meine Hand auf ihre Stirn legen.
     Meine Hand lag auf ihrer Stirn, ich hatte mein Gipsbein abgewinkelt und meinen halben Körper zu ihr hin verdreht. Baumstamm
     Ast Ästchen. Ich wollte sie sofort küssen, auf halbem Weg zum Kuß drehte sie sich weg und richtete sich auf, sie legte den
     Finger auf die Lippen und sagte leise: Unten ist ein Einbrecher, hörst du? Tatsächlich hörte ich ihn, und mein erster Gedanke
     war, daß er seine Straßenschuhe ausgezogen haben mußte und in Hauspantoffeln oder Strümpfen durch die Räume schlich, ich hörte
     das Geräusch von über den Holzfußboden kratzenden Stuhlbeinen, dann einen gedämpften Laut, wahrscheinlich hatte er sich an
     einer Möbelkante gestoßen, im nächsten Moment fiel etwas um, und ich hielt es nicht länger aus, wie ein Käfer auf dem Rücken
     zu liegen. Mühsam zog ich mich an dem Krückstock hoch, und als ich glaubte, auf dem gesunden und dem vergipsten Fuß sicher
     zu stehen, hinkte ich vorsichtig zum Schreibtisch, von hier aus hatte ich den richtigen Blickwinkel, um durch den Türspalt
     zu spähen, noch kam er nicht hoch, und die Faust in meiner Brust schlug und schlug, aber was konnte mir schon passieren, wenn
     ich mich ihm in den Weg stellte. Hinter meinem Rücken hörte ich es rascheln, sie sagte: Sei nicht leichtsinnig, er

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