Hinterland
nicht anders, als auf seine Fingerkuppen zu starren und dabei leise zu brummen. Libor
brummt auch beim Eintippen seiner Instruktionen in den Computer.)
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Die meisten Menschen glaubten, Himmel und Hölle wären zwei Bilder an der Korkpinnwand im Zimmer eines Kindes, das seinen Tuschkasten
danach zugeklappt und für immer weggelegt hatte. Tomás starb mit zweiundzwanzig Jahren eines unnatürlichen Todes, denn es
war unnatürlich, sich mit einer Überdosis Schlaftabletten aus dieser Welt zu verabschieden, unmöglich war es auch, weil er
geliebt wurde und diese Liebe ins Leere ging. Er schlief sein Leben aus. Nach der offiziellen Version gehörte er zu den Kummerbetäubten,
denen man einen Körper ohne Gesäß andichtet und von denen man behauptet, sie könnten von keiner Geisteskrankheit befallen
werden. Weil sie eine schöne Art haben, ihren Launen nachzugeben. Tomás blies nur kurz die Backen auf, und schon verflog der
Ärger, oder sein Gegenüber verschluckte sich an dem Tadel, den er aussprechen wollte.
Der junge Regisseur, kein besonders schlechter Mensch, erhob keine Einwände, als man den Jungen für eine Rolle in seinem Stück
empfahl. Wer empfahl ihn? Vilma, die Lügnerin, und Gretá, die Georgierin, zwei Frauen, auf deren Urteil er sich verließ, da
sie die Herkömmlichkeit zum Teufel jagten. Wenn zwei junge Männer sich gegenüberstehen, dereine ein Anweiser, der andere ein Anwender, könnte diese besondere Situation eine Freundschaft oder eine Feindschaft zur
Folge haben, doch die beiden Männer begnügten sich damit, einander zu beäugen, nur zwei Minuten lang war alles offen und unentschieden,
dann aber brach der Theateralltag in ihr Leben ein. Tomás spielte den Fremdkörper im Hause einer bürgerlichen Familie, er
sollte bitte sehr nicht auf sein gewinnendes Äußeres vertrauen, es wurde ihm verordnet, seine Haare ordentlich zu kämmen und
sogar einen linken Scheitel zu setzen, und als er in der ihm zugewiesenen Rolle aufging, schrieb der Regisseur über Nacht
einige entscheidende Szenen um. Tomás würde als die Tochter des Dienstmädchens – eines alten Mannes – den Herrn des Hauses
so sehr beeindrucken, daß dieser gegen alle Regeln des Anstands verstieß. Also saß er in Nylonstrümpfen auf Vilmas Schoß,
dabei mußte er seine Beine damenhaft anwinkeln, seine spitzen Knie bohrten sich in die Flanke Vilmas, der diese unanständige
Geschichte nichts auszumachen schien, es war, wie es war, und der Anweiser verlangte eine fast schon heilige Hingabe. Also
flüsterte sie Tomás ins Ohr, er sollte nur ob der Bosheit des Hausherrn ärgerlich werden, und übrigens würde er ihr im wirklichen
Leben den Kopf verdrehen. Nach dieser Enthüllung spielte Tomás wie ein junger Gott, jeder im Proberaum hielt den Atem an,
weil das Idiotische der Dinge und der Dialoge verflogen war – wie ein junger Gott? Diese Lobesworte eines ergriffenen Technikers
bedeuteten einen Rückfall in die Herkömmlichkeit, man hätte das Spiel des Geschlechtsumgewandelten als ein Trugbild bezeichnen
können, dem die Zuschauer erlagen, doch der Regisseur hatte sich bald gefangen und schrieb einen ersten Satz auf den Bogen
Papier: Die Seufzer einer melancholischen Maschine sind nichts im Vergleich zu den Lauten des Jungen.
Der Junge wurde begehrt, und weshalb also der Tod, weshalb Himmel und Hölle, die wir wegen seines Selbstmordsgezwungen sind zu unterscheiden? Hatte sich seine Seele des Gesäßgewichts entledigt? Und schwebte sie, wie es die Märchen
für Erwachsene nahelegten, über den Häuptern der gesäßbeschwerten Menschen? Nichts geht verloren, nichts wird verschwendet,
wie kann man das Nichts nach dem Tode, dieses große Unglück, verteidigen? Der zweiundzwanzigjährige Tomás war krank, die Krankheit
zerrte und zupfte an seinem ansonsten unversehrten Körper, und er wurde, da er in die Schwärze hineinglitt, fast verrückt:
Tatsächlich wäre er in einigen Jahren zu einem Depressionsegoisten verkommen, er hätte sich nur noch mit dem Gedanken beschäftigt,
in seinen Händen und Füßen, in seinen Eingeweiden, in seinem Kopf und Hals ein bißchen Gefühl zu spüren. Der Himmel: Ein schmerzfreies
Reich. Die Hölle: Das Tuschkastenschwarz. Um diesem Schwarz zu entgehen, hatte er Pavlina geheiratet, gleich am Tage seiner
Aufnahme in die Schauspielschule, er wußte um ihre Geisteskrankheit, um ihre Schübe, und um das Versteck, das sie aufsuchte,
weil
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