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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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Bierdosen und Flaschen mit der Stiefelspitze aus dem Weg, weil sie fürchtete, ich könnte mit der Krücke
     ausrutschen und mir meinen gesunden Fuß brechen. Es hatte keine einzige Minute gegeben, in der ich mir wünschte, an einem
     anderen Ort in besseren Verhältnissen zu sein, ich war glücklich, auch wenn ich nur einen Schuh trug und das morgendliche
     Anziehen quälend lange dauerte, ich war glücklich, weil ich fast alles nur in der Übersetzung verstand, und als man uns in
     dem Restaurant Bei Gretá Stühle an einen niedrigen Tisch stellte, rief ich: Wie schön!, und Aneschka, ihr Vater und die Tschechen
     in dem Saal – und auch Gretá – starrten mich kurz an und hielten mich wahrscheinlich für einen Deutschen, der sich auf ein
     exotisches Essen freute.
    Gretá war eine Diasporageorgierin, ich konnte ganz bestimmt nicht Georgien auf der Landkarte finden, es klang wie ein Land
     hinter den sieben Bergen, sie ging auf die Knie und klopfte gegen den Gips, es gefiel ihr, daß ich nicht zu den albernen Jungs
     gehörte, die ihren Gipsfuß oder weiße Papiertischdecken mit Filzstift bemalen. Dann kam Libor und drehte mir sein kalkweißes
     Gesicht zu, kaum daß er saß, seine linke Augenbraue war vernarbt, und weil der Rauch der Zigarette in seinem rechten Mundwinkel
     seltsamerweise in sein linkes Auge zog, kniff er es zu. Was glaubt er, wer ich bin, dachte ich, wir sehen uns zum ersten Mal,
     und er tut so, als teilten wir beide ein Geheimnis.
    Ich ließ den Blick über die ziegelroten Wände schweifen, überall Kreidezeichnungen, überall fremde verschmierte Worte, über
     dem Durchgang zur Küche entdeckte ich auf einem Foto ein Reifenspurenherz im Schnee, nach einer Weile fand ich es beschämend,
     darin Zeichen zu entdecken, ich wandte den Blick ab und schaute wieder in Libors kalkweißes Gesicht, und da begann er, in
     fließendem Deutsch, von Eigenarten und der Eigenheit zu erzählen. Das sind deutsche Worte, sagte er, wenn es einen Wind gibt,
     der mich erschreckt, wennich Angst davor habe, daß sich jemand, mit dem ich nicht rechne, im Schrank oder im Badezimmer versteckt hat, weiß ich, das
     ist Eigenheit, kannst du mir folgen? Nein, sagte ich, macht nichts, sprich bitte weiter. Ich spreche weiter, fuhr er fort,
     dir ist bestimmt aufgefallen, daß die Ampeln hier schnell auf Rot schalten. Die Menschen beeilen sich beim Überqueren der
     Straße, man sieht sogar Frauen mit Kinderwagen zur anderen Straßenseite rennen. Das ist Eigenheit. Gretá steht tagsüber vor
     ihrem Restaurant, sie schnippt mit den Fingern, dabei pfeift sie ein georgisches Heldenlied, damit vertreibt sie sich die
     Zeit, bis endlich ein Bekannter vorbeikommt, den sie davon überzeugt, doch nicht zum Einkaufen zu gehen, sondern mit ihr über
     die aktuellen Fleischpreise zu sprechen. Das ist ihre Eigenart. Was ist deine Eigenheit? Schwarzbrot, sagte ich.
    Nun sprach Libor davon, daß man bei uns Deutschen wohl das Brot färbte, Schwarzbrot, Graubrot, Weißbrot, die reinste Farbenlehre
     wäre das, und er hätte bei seinem einzigen Deutschlandaufenthalt in der Bäckerei gestanden und die Brotsorten bestaunt, die
     Bäckersfrau hatte ihn aufgefordert, das Grübeln einzustellen und sich zu entscheiden. Und dann sagte er: Das Gesäßgewicht
     der letzten Jahre drückt mich nieder. (Was könnte er damit gemeint haben? Verzieren, verschönern, verfärben; Libors Arbeit
     besteht darin, eine Ware, die man nicht essen oder trinken kann, genießbar zu machen. Einmal alle zwei Monate stellt er seine
     Dienste einem armen Künstler unentgeltlich zur Verfügung. Er entwirft Einladungskarten und Internetseiten und besorgt die
     richtigen technischen Apparate, trommelt für besondere Ausstellungen. Bei Jacub hat er versagt. Und immer dann, wenn ihm eine
     gute Tat mißglückt, schließt er sich in seiner Wohnung ein und starrt auf seine Fingerspitzen, seine Hände ruhen auf den Oberschenkeln,
     und er erinnert sich: an die Zeit, da er glaubte, auch ein kleiner Kasper könnte großes Theater machen;an die Tage, die er damit verbrachte, in der ›Dobra Trafika‹, dem Guten Kiosk, zu sitzen, immer zwischen elf Uhr dreißig
     vormittags bis siebzehn Uhr fünfzehn nachmittags, er betrachtete nachdenkliche junge Frauen, die sich an heißer weißer Trinkschokolade
     die Zunge verbrühten. Auch wenn er weiß, daß kein Heil darin liegt, zurückzublicken, auch wenn er weiß, daß er froh sein müßte,
     keiner Katastrophe zuzusteuern, er kann

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