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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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großen Dreieck erfaßte, was ist das nur für eine gebieterische Kraft, hatte sie vorhin
     ausgerufen, wodurch zeichnen sie sich aus, daß sie verschwinden, gibt es so viele Plink-Plink-Augenblicke in ihrem Leben,
     daß sie unsichtbar werden? Und ich gab es auf, Sinn und Tollheit auseinanderzuhalten, jetzt im Regen, ich nahm mir vor, nicht
     mehr im Bett mit geschlossenen Augen zu liegen und zu grübeln, und auch wenn ich wegen des Plastikgestells an meinem rechten
     Fuß fluchte und auch wenn ich an Gelenkigkeit eingebüßt hatte: Wir liebten uns jede Nacht, sie roch nach einem Schöne-Frauen-Parfüm.

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    Liebe Helen,
    ich habe für Dich ein Drittel der Zeitungsseite herausgerissen, damit Du weißt, daß ich Deiner Frage nicht ausweiche – Du hast mich bei meinem letzten Berlinaufenthalt gefragt, wie mein neuer deutscher Freund aussieht und ob er mich, wie so viele junge und ältere Männer, belehren will. Du siehst auf dem Foto einen Bengalesen, der mit einem Lappen einen Schnallenschuh putzt. Er hat einen dicken kleinen Finger, sein Daumen ist nicht zu sehen, vielleicht hat er ihn unter den Lappen gebogen. Im Text neben dem Foto heißt es, daß die größte Schuhfabrik der Welt in Bangladesch entsteht. Früher haben mich solche Zeitungsmeldungen nicht interessiert. Heute mache ich mir Gedanken. Ferda, meine Ameise, widerspricht immer, wenn man ihn einen Schuster nennt, er sagt, daß er noch in die Lehre geht, ich bin also mit einem Schusterlehrling zusammengekommen. Ich glaube, er brennt. Er hat warme Hände und eine Nase, die so groß ist wie drei Stupsnasen. Ich glaube, es wird schwierig für ihn werden, sich in der ungeraden Stille einzurichten …
     
    An dieser Stelle hörte Aneschka auf weiterzuschreiben, sie hätte ihrer Schreibfreundin so viele Dinge erklären müssen, und
     es lohnte nicht die Mühe, vielmehr hatte sie es satt, zu übersetzen oder die Zweideutigkeit der tschechischen Gesten in deutschen
     Gesten wiederzugeben. Sie faltete das Drittel Zeitung wieder in Handtellergröße und steckte es gedankenverloren in irgendein
     Buch. (Einige Wochen später würde sie dieses Buch aufschlagen und sich ärgern, weil die Druckerschwärze auf die Seiten abgefärbt
     hatte, sie würde den Vorsatz fassen, nur Blumen zum Trockenpressen zwischen die Seiten eines Buches zu legen.)
    Sie wußte plötzlich, wo sie sie finden konnte, sie wollte ihrer Ahnung folgen, sie küßte ihren schlafenden Freund auf das
     linke geschlossene Lid, zerriß das Briefpapier in viele kleineFetzen, schlüpfte in ihren Mantel, und weil sie vergaß, einen Regenschirm mitzunehmen, wurde sie auf dem Weg zur Bushaltestelle
     naß. Nach zwei Stationen stieg sie um, und der Bus brachte sie bis zu ihrem ehemaligen Gymnasium, sie war sich sicher, wo
     sie sie finden würde, und nach fünf Minuten Fußmarsch, während derer sie an nichts anderes dachte als an eine bestimmte Möglichkeit,
     ein Lied über kullernde Schrauben in einer leeren Schublade zu komponieren, erreichte sie den Park: Und dort, auf der gelbgestrichenen
     Bank, saß Vilma, neben ihr, in Reichweite, stand ein Stuhl, der aussah wie eine halbe Leiter.
    Aneschka näherte sich ihr wie einer scheuen Katze, sie grüßte sie und nahm auf der Parkbank Platz, und dann erzählte sie der
     Verschwundenen, der von ihr Wiederentdeckten, die an einem Schokoladenriegel knabberte, daß eine Taube oder eine Krähe wegfliegen
     würde, wenn man in die Hände klatschte. Vielleicht wäre es ihr auch so ergangen, wenn sie sich belästigt fühlte, könnte sie
     natürlich auf der Stelle gehen. Nein, bleib, sagte Vilma, und sie stellten sich vor, Vilma hatte nicht nur von dem berühmten
     Komponisten gehört, sie wußte auch von der geheimen Leidenschaft der Souffleuse, diesen Mann zu lieben, dessen Fingerkuppen
     über die weißen und schwarzen Klaviertasten flogen, sie sprach, nach einem harten Bruch mitten im Satz, von Tomás, ihrem scheuen
     Vogel im Paradies, in der Hölle brannten alle, die Rang und Namen hatten, und Tomás aber war ein Freund der Frauen gewesen,
     er hatte bei einer Probe auf ihrem Schoß gesessen. Es war nicht sehr angenehm, fuhr sie fort, weil die Münzen in mein Fleisch
     drückten, eine Fünfzig-, vier Zwanzig- und zwei Zehnkronenmünzen, also hundertfünfzig Kronen in einem Umschlag, den ich in
     meine Hosentasche gesteckt hatte, um ihn später dem Pförtner zu geben, ich bat ihn, für mich Hundefutter zu kaufen und das
     Geld auszulegen. Er ist ein

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