Hinterland
bißchen in mich verliebt, mehr als ein bißchen, und da er glaubt,nicht über seinen Stand hochlieben zu dürfen, beläßt er es bei einer harmlosen Schwärmerei, wir alle im Theater wissen Bescheid,
ich weiß auch, daß man ihm hinterbracht hat, was in dieser Szene geschieht, ein Mann in aufreizenden Frauenkleidern sitzt
auf dem Schoß einer Frau im Anzug, und daher ist er seitdem im Zweifel, ob seine Liebe zu mir ihn nicht ins Zwielicht rückt.
Ich habe vor gut einem Jahr beschlossen, keine Turnschuhe mehr zu tragen, plötzlich ergibt es für ihn einen Sinn, ich werde
männerähnlicher, und weil der Regisseur mich darin bestärkt, haßt er ihn …
Wieso bist du verschwunden? sagte Aneschka. Wegen dieser Geschichten und ohne besonderen Grund, sagte Vilma und schlug die
Beine übereinander, in den Rillen ihrer regenwassernassen Schuhsohle entdeckte Aneschka zwei Kaugummipfropfen, und beflügelt
von dem Gefühl, in die ungerade Stille hinüberzugleiten, sprach sie von ihrem ersten chemischen Schwindel, der sie erfaßt
hatte, als sie das erste Mal eine Kopfschmerztablette einnahm, seitdem liebte sie die romantische Chemie, sie wollte aber
nichts einnehmen, was ihre Stimmung hob. (Sprachen die beiden Frauen aneinander vorbei? Für einen Außenstehenden mochte es
so wirken. Wir dürfen nicht vergessen, daß sie sich innerhalb der auf dem Stadtplan schraffierten Zone des besonderen Dreiecks
befanden, Ferda hatte das Gebiet mit Schraffur markiert, um sich langsam an den Gedanken zu gewöhnen, daß in dieser Stadt
die Umrisse von Körperteilen verschwammen, je nachdem, wo sich die Menschen aufhielten. Vilma hatte zu lange geschwiegen,
sie hatte in zu kurzer Zeit zu große Mengen an Alkohol zu sich genommen: Nun war die Zeit der Ernüchterung. Vilma und Aneschka
waren abgelenkt, weil die Alarmanlage eines Autos in der Nähe anging, ein falscher Alarm, dachten sie beide, ein Auto ist
zu dicht vorbeigefahren, und die Vibration hat die Alarmfunktion in Gang gesetzt. Das ruhige Hinterland ist eine schöne Illusion,
es gibt immer das erste Wort, den erstenLaut und den ersten Lärm, und dann begibt man sich an einen anderen Ort, um seine Ruhe zu haben.)
Sie saßen also und sprachen. Ein junger Lehrer erkannte Aneschka, aber da sie vorgab, in ein Gespräch vertieft zu sein, eilte
er vorbei, ohne den Versuch zu unternehmen, der alten schönen Zeiten wegen sich mit ihr zu verabreden. Sie hatte ihn bemerkt,
ihre einstige Verliebtheit war längst ausgeklungen, ja, das war das richtige Wort. Vilma fragte sie aus nach ihrem Vater,
der sich nicht auf Ivana, die Schildkröte, einlassen wollte, wer das Schlechte berührt, dem wackeln die Zähne, sagte sie,
ihre seltsame Bemerkung brachte sie beide zum Lachen, und sie standen auf. Aneschka griff ohne Aufforderung zur Fußstütze
des Trittstuhls und half beim Tragen, der leichte Regen tupfte Tropfen auf ihre Gesichter, sie empfanden die Euphorie von
Frauen, die schon am Tagesanfang den schönen Abend spüren. Es war so gefügt, es sollte geschehen, daß eine Stunde später Aneschka
mit ihrem deutschen Freund in einem Studentencafé saß, er war außer Atem, weil er die Treppen zum fünften Stock hastig hochgestiegen
war, und wieder versuchte er, in den tschechischen Worten, die er nicht verstand, Hinweise auf das wirkliche Prag zu finden,
gestern noch ein Fernsehmoderator am Nebentisch, heute zwei Schachspieler, die siegessicher einander angrinsten – Aneschka
bat um vier Bestellblockseiten und schrieb, aus schlechtem Gewissen, an ihre Brieffreundin.
Liebe Helen,
dies ist mein zweiter Versuch, mich an Dich zu erinnern: Deshalb schreibe ich Dir ja. Und ich hoffe, daß Du Dich an mich erinnerst, wenn Du meinen Brief erhältst. Bei jedem Satz muß ich meine Muskeln anspannen, ein Fehler wäre mir sehr peinlich. Also, daß es uns beiden gutgeht, glaube ich gern. Mein Vater ist beunruhigt, das Amt für Strafzettel hat sich bei ihm gemeldet. Der Beamte hat ihm gesagt: Wirkönnen Ihnen die Bußgeldbescheide nicht zuschicken, weil Sie sich nicht umgemeldet haben, wir haben Ihre aktuelle Adresse nicht vorliegen. (Ich habe mich zehn Minuten mit Ferda beraten, um den letzten Satz richtig zu formulieren.) Mein Vater, er war verheiratet, er ist geschieden, jetzt träumt er von einer Frau, der keine Perfektion vorschwebt, wenn sie einen Mann auswählt. Er wird bei seiner Suche abgelenkt, und deshalb parkt er meist im absoluten Halteverbot, natürlich
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