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Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
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anderen aufgesogen und ausgezehrt werden, das unterversorgte Kind sterbe lange vor der
     Geburt des einzigen gesunden Kindes – diesem Hauptgedanken wäre er nachgegangen. Der tatsächlich etwas geschwätzige Pförtner
     hatte dem Komponisten noch ein weiteres Detail verraten, der hintere Ausgang des Theaters war an diesem Abend unbewacht, und
     daher hatte sich der böse Kritiker hineinschleichen können, er stand reglos im Schatten der großen Topfpflanze, die zu begießen
     der Pförtner die Frau Putzfrau immer erinnern mußte, er hörte und notierte sich jedes Wort, um es dann als Zitat in seinen
     Exekutionstext einzustreuen, denn roh und herzlos war sein Artikel, gemein und liederlich, häßlich und verdorben …
    Der Komponist kannte den Kritiker als einen bösen Buben, der jede Tischgesellschaft zum Lachen brachte, also war er auf seiner
     Seite, er hatte es auch satt, den Schurkenstücken vonAvantgardisten Beifall zu spenden. Jetzt aber Ivana, die Wortflüsterin unter der Muschelschale, jetzt aber die Frau, die
     ihn davor warnte, sie zu pfeifen wie eine schöne Melodie, und sie aber gleich zu vergessen. Es stimmt, sagte er schließlich,
     es ist wahr, daß ich Männer beneide, die weder ein noch aus wissen, ich habe eine klare Linie, und deshalb komme ich nicht
     zurecht. (Weshalb muß man grundsätzlich werden, wenn man aufgefordert wird, realistisch zu sein? Überall flöten sie, die verliebten
     Männer, einen Schmerz vor, dabei erwartet man von ihnen Ausdauer und einen hinreichenden Grund, sich ihnen hinzugeben.) Es
     kann sein, sagte der Komponist, ich leugne es nicht, daß ich manchmal wankelmütig bin. Aber ich habe dich und keine andere
     umarmt, oder nicht? Oder nicht, sagte Ivana, sie setzte sich auf die Bettkante, ihren Vorsatz, nur bei offenem Fenster zu
     rauchen, empfand sie plötzlich als lächerlich, sie steckte sich eine neue Zigarette an und blies den Rauch in Richtung seiner
     linken Schulter, und es paßte, daß er reflexhaft den Rauch von seinem Gesicht, von seinem Kopf auf seine Schulter wegwedelte.
    Sie war in ihn verliebt. Er würde vielleicht noch eine Weile brauchen. Gefällt dir meine Haarfarbe nicht? sagte sie, soll
     ich mir die Haare wieder blond färben, ich bin nämlich im Zweifel. Und sie unterhielten sich die nächste halbe Stunde über
     das Kandiszuckerbraun, über verschämte und unverschämte Friseure, über den Nutzen und die Nachteile der Heimfärbung, und als
     sie anfing, mit dem langen Fingernagel die Furchen zwischen seinen Handknöcheln sanft zu kratzen, konnte er endlich seinen
     Verdacht aussprechen. Dort die Vase, aus deren engem Hals Plastiktulpen herausquollen, weiter weg ›das Dressoir‹, er übersetzte
     es als Ankleidekommode und wußte nicht, was damit gemeint sein konnte, darauf lagen ein Paar weiße und ein paar dunkelviolette
     Handschuhe, und je länger er den Blick schweifen ließ, desto besser gelang es ihm, beteiligt zu klingen, und schließlich sagte
     er: Ich kenne eine gewisseEdita, du und sie, ihr seht euch sehr ähnlich … Natürlich, wie denn auch anders, sie waren Geschwister, und daß Ivana es
     leugnete, machte für ihn Sinn, sie beide wurden schön in der Dunkelheit, und da sie die Helle mieden, weil sie sie angriff,
     weil das Licht ein Zubehör der Nacht war, dichteten die Männer ihnen kleine Geheimnisse an. Er aber war hier, und sie kratzte
     zwischen seinen Handknöcheln, und da begann er, das Lied zu summen, und als sie fragte, sagte er, er hätte es für sie komponiert,
     nein, nicht wahr, er hätte mit einigen Noten herumgespielt, aus keinem anderen Grund, als beschäftigt zu bleiben, und jetzt
     wäre ihm der Titel eingefallen: Ivana im ersten Drittel ihrer Zuversicht. Sie legte ihren Kopf schief. Gut, sagte er, wir
     nennen das Lied: Ivana überreicht ihrem Geliebten einen Strauß Tulpen, nein warte, das Lied heißt: Tausend Muscheln für Ivana.
    Nach vielen Stunden und kurz vor Morgengrauen gingen sie gemeinsam aus dem Haus, die alte Nachbarin, die nach kurzem Schlaf
     das Bett floh und jeden Tag den Bürgersteig vor der Haustür kehrte, richtete sich beim Anblick des fremden Mannes an der Seite
     dieser Kulturperson auf, und fast schien es, als wollte sie ihnen beiden mit einer gezielten Gemeinheit den Tag verderben,
     aber da wünschte ihr der Mann seltsamerweise einen großen Frühstückshunger, und es blieb ihr nur festzustellen, daß sie bald
     zu Mittag essen würde. Das wenige, an das man noch glaubte, war

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