Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hinterland

Hinterland

Titel: Hinterland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Feridun Zaimoglu
Vom Netzwerk:
erst, nachdem er mehrere Runden gedreht hat. Ich habe im Moment keine großen Schwierigkeiten, mich an meinen Tagesplan zu halten. Ferda hinkt, er hat sich den Fuß gebrochen, bald wird er wieder richtig gehen können. Ich möchte Dir zwar gerne erzählen, wer alles in letzter Zeit verschwunden und wer wieder aufgetaucht ist, nur ich fürchte, Du würdest mich dann für eine zernagte Schrebergartenfahnenstange halten. (Kann man das so sagen?) Vielleicht beim nächsten Brief oder, viel besser, beim nächsten Treffen. Trägst Du enge oder weite Jeanshosen? Ich finde, das Korsett unserer Zeit ist die enge Jeanshose. Ich stehe und ziehe die Hose bis zu den Knien, dann lege ich mich aufs Bett, strecke die Beine in die Höhe und zerre am Hosenbund, bis ich ihn auf Höhe der Oberschenkel habe. Schließlich stehe ich auf, und ich muß all meine Kraft aufbieten, um den Reißverschluß hochzuziehen und mich zuzuknöpfen. Keiner schreibt mir vor, diese Qual auf mich zu nehmen, doch da ich meist lange oder kurze Röcke trage, wollte ich etwas Abwechslung in meinem Leben. Ich halte mich nicht an einen Diätplan, ich will nicht dünner erscheinen, als ich bin. Darüber habe ich auch mit Ferda gesprochen, doch ich mußte das Gespräch abbrechen, weil er bei meinem Anblick schöne unanständige Dinge gesagt hat. Übrigens, ich habe für ihn ein Lied komponiert, und seltsam fand ich, daß ich, um in Stimmung zu kommen, an Schrauben in Schubladen oder Drahtbügel in Kleiderschränken gedacht habe. Klingt das trostlos? Dabei habe ich trostvolleBilder im Kopf, und doch ist diese meine Liebesbeziehung eine seltsame. Wieso? Deshalb: Ich feile an den Kurzmitteilungen, die ich ihm schicken werde, wenn er wieder nach Deutschland zurückkehrt, ja ich speichere sie sogar. Ich spiele, wie Du weißt, in einer Musikgruppe, und der Klarinettist saugt immer die Lippen ein. Darüber hat sich Ferda einmal ausgelassen, und auch wenn er zugibt, keinen wirklichen Musikgeschmack zu haben, spart er nicht mit Urteilen über die Musiker. Das hat mich erzürnt, und wir haben uns, nicht nur deswegen, gestritten. Er spricht auch mir das Recht zu, über schlechte oder gute Schuhe aus der Hand von schlechten oder guten Schustern eine Meinung zu haben. Gut. Doch Musik ist etwas anderes, oder nicht?
    Worüber soll ich auf dem letzten Zettel schreiben? Nicht über das Wetter, über die Wolken und den Sonnenschein, nicht über die gekauften und noch nicht gekauften Politiker, nicht über die einfachen Menschen, die doch nur atmen und sogar im Schlaf das Atmen nicht vergessen. Nicht über meine Angst, daß Ferda vom Erdboden verschluckt wird und verschwindet. Ich hoffe, daß wir uns bald wiedersehen und uns das Erinnern ersparen.
     

[ Menü ]
     
    Am offenen Fenster, draußen kalte Nacht, flackerndes blaues Fernseherleuchten in den meisten Zimmern. Sie mußte daran denken,
     daß sie mit der Wolldecke auf den Schultern wie ein Erdbebenopfer aussah, sie atmete den Zigarettenrauch hinaus. Der Mann
     hinter ihr hatte sie überrascht, ein Überfall. Die Schamfrist war verstrichen, oder aber er hatte es sich anders überlegt,
     wie auch immer, er saß auf dem Korbsessel, und als sie seinen Blick an ihrem Rücken spürte, sagte sie zwischen zwei Zügen,
     daß er genug gesessen hätte, er sollte sich endlich an sie schmiegen und ihren Bauch streicheln. Er kamihrer Aufforderung nach, er küßte sie sogar auf den Hinterkopf. Die Gardinen waren nicht zugezogen, die Nachbarn von gegenüber
     mochten denken, was sie wollten, es war ihr egal.
    Und nach wenigen Minuten, als es sich nicht länger aufschieben ließ, versteifte sie in der Umklammerung und wartete ab, daß
     er einige Schritte auf Abstand ging, sie wandte sich um und sagte: Willst du dir an mir die Schuhe abputzen? Heute nacht hier,
     morgen nacht dort – so verdirbt man die Frauen … Wenn er es geschmacklos fand, gleich nach der ersten richtigen Umarmung zu
     einer Entscheidung gedrängt zu werden, so ließ er es sich nicht anmerken, heute war der Tag, da er das Lied über hellwache
     Frauen im Bett fertigkomponiert hatte, auch hatte man ihm zugetragen, daß die flüchtige Schauspielerin wieder aufgetaucht
     war. Der Regisseur strich aus der Laune des Wiedersehensmoments wieder eine Szene und erklärte vor versammelter Mannschaft,
     er hätte in letzter Zeit sehr viel über das Phänomen des schwindenden Kindes im Mutterleib nachgedacht: Bei Mehrlingsschwangerschaften
     würde nicht selten das eine Kind vom

Weitere Kostenlose Bücher