Hiobs Brüder
einem Ball zusammengerollt hatte und seine Haut im flackernden Fackelschein schweißnass glänzte. Er blutete an beiden Unterarmen, und sein Atem ging stoßweise.
»Regy?«
Die erbarmungswürdige Gestalt am Boden zuckte zusammen, und das Keuchen verstummte. »Losian?«
»Lass das nicht meine Großmutter hören. Was in aller Welt ist los mit dir?«
Regy richtete sich langsam auf, blieb einen Moment mit gesenktem Kopf im Stroh sitzen und drehte sich dann zu ihm um. Die Augen waren blutunterlaufen, die Lippen zerbissen. Als er lächelte, musste Alan ein Schaudern unterdrücken. Es war die schmerzverzerrte Fratze einer gepeinigten Kreatur, die geradewegs aus der Hölle zu kommen schien. Aber Regys Stimme und sein hochmütiger näselnder Tonfall waren ganz die alten. »Alan de Lisieux, sieh an. Wie nett, dass du vorbeischaust.«
»Ich ziehe Alan of Helmsby vor.«
»Wieso? Der eine ist ebenso ein Fremder für dich wie der andere.«
»Das stimmt. Steh auf, zeig mir, wie lang deine Kette ist.«
Regy gehorchte anstandslos und führte ihm vor, dass die Kette sich nach drei Schritten spannte.
Alan trat über die Schwelle, entdeckte nach kurzem Suchen eine Eisenhalterung, steckte die Fackel hinein und ließ sich nahe der Mauer im Stroh nieder. Es war frisch, sauber und dick aufgeschüttet. »Zieh dich an, ja? Tu mir den Gefallen.«
Regy stieg in die verdreckte Kutte – verdächtig zahm. Seine Bewegungen waren schleppend. Dann setzte er sich Alan gegenüber an die Wand mit dem Eisenring, an dem seine Kette befestigt war, und zog die Knie an. »War der berühmte Kreuzfahrer dein Vater?«
»Mein Großvater. Regy, würdest du mir verraten, warum du dir die Arme und die Lippen blutig gebissen hast? Ich weiß natürlich, dass du gerne Gebrauch von deinen Zähnen machst, aber gegen dich selbst?«
»Bist du ins Heilige Land gereist, um in seine Fußstapfen zu treten? Verzeih meine Offenheit, aber hast du nicht befürchtet, sie könnten ein bisschen zu groß für dich sein?«
»Regy …«
»Beantworte meine Frage, dann beantworte ich deine.«
Alan ließ sich nicht gern auf solche Machtspielchen ein, denn Regy war ein Meister darin – man konnte nur verlieren. Aber heute machte er eine Ausnahme. »Wie es aussieht, bin ich überhaupt nicht im Heiligen Land gewesen. Woher der Kreuzfahrermantel und der seltsame Traum kamen, weiß ich nicht. Mein Name ist das Einzige, was ich erfahren habe, aber er hat mir keine Offenbarung beschert.«
»Ich habe mir in die Arme gebissen, um nicht zu schreien. Wenn ich allein in dunklen, engen Löchern eingesperrt bin, muss ich schreien, weil ich weiß, dass sie kommen und es wieder tun werden. Mein ruhmreicher Onkel Geoff und …«
»Ich will das nicht hören«, unterbrach Alan schneidend. Mit einem Mal spürte er Schweiß auf Brust und Rücken. Er hatte irgendwie immer gewusst, dass es solch eine Geschichte gab, aber es war sein Ernst: Er wollte sie nicht hören.
Regy saugte einen Moment an seiner blutigen Unterlippe. »Wenn ich schreie, kommen sie schneller wieder, als wenn ich es nicht tue. Also darf ich es auf keinen Fall, verstehst du? Aber es ist unmöglich, allein im Dunkeln zu liegen und darauf zu warten und nicht zu schreien, also …«
»Hör auf damit!« Verstohlen ballte Alan die Fäuste, um sich unter Kontrolle zu halten. »Du hast zweimal versucht, mich umzubringen. Du hast Robert die Kehle durchgebissen. Du bist ein Kinderschänder und Kindermörder. Und du erwartest, dass ich dich bedaure? Du musst verrückter sein, als ich dachte.«
»Ich scheiß auf dein Mitgefühl.«
»Das klingt schon viel besser.«
»Aber ich appelliere an deinen Anstand.«
»Ich glaub, mir wird übel.«
Regy richtete den Oberkörper auf und beugte sich ein wenig vor. Der Fackelschein glitzerte in seinen geröteten Augen mit den schwarzen Iris, und er sah wahrhaftig aus wie ein Dämon. »Töte mich oder lass mich hier raus.« Es war ein Befehlston, streng und fordernd. »Eins von beiden, mir ist egal, was. Aber lass mich nicht hier unten.«
Alan strich sich nachdenklich mit dem Daumennagel übers Kinn und ließ ihn nicht aus den Augen. »Und wenn ich nun erwiderte, dass Freilassen nicht infrage kommt und du einen schnellen Tod nicht verdient hast? Sondern genau die Hölle, die du hier offenbar gefunden hast? Was antwortest du dann?«
»Dass du lügst, weil es nicht wirklich das ist, was du denkst. Du bist zu …« Er brach ab und richtete den Blick ins Leere, während er nach dem Wort suchte.
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