Hiobs Brüder
Verdächtigungen bestätigten sich?«, fragte Simon, der neben ihm herlief.
Losian nickte. »Halt mir die Tür auf, sei so gut.«
»Was hast du vor?«
»Ich wasche meine Kleider«, erklärte Losian. »Heute ist der wärmste Tag seit Wochen, eine gute Gelegenheit.« Er stellte den Bottich auf den Deckel seiner Kiste und ließ die Tür offen, damit er Licht hatte. Der Wind kam hereingeweht, aber heute war er nur kalt, nicht eisig. »Der Archidiakon erfuhr, dass Regy in gewissen übel beleumundeten Kreisen in der Stadt kein Unbekannter war. Und obwohl er nicht wollte, musste er feststellen, dass die Verdächtigungen glaubwürdig waren. Der ehrwürdige Erzbischof bestellte Regy daraufhin zu einer diskreten Unterredung. Der Kastellan der Burg war auch zugegen. Das Ergebnis war, dass Regy weder vor ein weltliches noch ein kirchliches Gericht gestellt, sondern nach St. Pancras geschickt wurde. Und die Brüder legten ihm das Halseisen um, brachten ihn her und rieten uns, achtsam zu sein.« Er legte den Gürtel ab und zog sich den knielangen Kittel über den Kopf. Ein Hemd besaß er schon lange nicht mehr, und auf seinem Oberkörper bildete sich eine Gänsehaut.
Fasziniert betrachtete Simon die beachtliche sichelförmige Narbe auf der rechten Brust. Dann fiel sein Blick auf den Schlüssel, den Losian an einer Lederschnur um den Hals trug. »Aber ihr wart nicht achtsam genug?«
Losian hockte sich vor die Kiste, stopfte das Kleidungsstück in den viel zu kleinen Bottich und fing an zu rubbeln. »Wir dachten, er sei so wie der Rest von uns. Er hat uns den verstörten Schwachkopf vorgegaukelt. Er ist wahrhaftig ein großer Blender. King Edmund hat sogar versucht, ihm das Eisen abzunehmen. Zum Glück erfolglos. Die Mönche hatten ausnahmsweise einmal erkannt, womit sie es zu tun hatten, und einen Schmied geholt, der sein Handwerk verstand. In der dritten Nacht, nachdem sie Regy hergebracht hatten, ist es passiert.«
»Er hat einen von euch getötet?«
Losian starrte auf seine Wäsche hinab, konzentrierte den Blick auf den groben Stoff, damit er nur ja nicht wieder vor seinem geistigen Auge sehen musste, was er an jenem Morgen in Regys Hütte vorgefunden hatte. »Einen normannischen Jungen aus Durham. Robert.« Zuerst hatte er überhaupt nicht begriffen, was er sah. Regy war so blutüberströmt gewesen, dass Losian geglaubt hatte, der Neue habe sich mit einem scharfkantigen Stein die Kehle durchgeschnitten. Erst als sein Blick auf das gefallen war, was von Robert übrig war, hatte er seinen Irrtum erkannt. Mit verklärtem, eigentümlich glasigem Blick hatte Regy am Boden gehockt und vorgegeben, nicht ansprechbar zu sein. Doch als Losian ihm den Rücken kehrte, hatte Regy sich auf ihn gestürzt und ihm die Kehle zugedrückt. Wären die Zwillinge nicht zufällig hinzugekommen, hätte es sehr finster ausgesehen. »Und da haben wir beschlossen, ihn oben im Turm einzusperren.«
»Warum habt ihr ihn nicht getötet?«
»Weil die Möglichkeit bestand, dass er genau das wollte.«
Simon nickte. »Verstehe. Aber wenn ihr alle zusammen es beschlossen habt, wieso hasst er dann ausgerechnet dich so?«
»Weil ich das Schloss gefunden habe, mit dem wir die Kette am Balken gesichert haben.«
»Wo?«, fragte der Junge erstaunt.
»Im Keller des Turms.« Er hatte ein brennendes Holzscheit vom Küchenfeuer als notdürftige Fackel mitgenommen, aber selbst mit einem Licht war es nicht gerade anheimelnd dort unten. Die Ratten waren zahlreich und dreist und verteidigten ihr dunkles Reich eifersüchtig. Niemand ging ohne Not dorthin, darum lagen im Keller die letzten Schätze dieser Burg. Mit einer Mischung aus Scham und Stolz erinnerte Losian sich an dieses kleine Abenteuer. Es hatte ihn Überwindung gekostet. Er fürchtete weder die Ratten noch die Dunkelheit, aber das lähmende Entsetzen, das in der Dunkelheit stets auf ihn lauerte und ihm die Luft abschnürte, bis ihm schwindelig wurde und er sich klein und feige und verabscheuungswürdig fühlte. Er hatte gewusst, dass es ihn da unten überkommen würde, und er hatte sich nicht getäuscht. Aber er war trotzdem hinabgestiegen. Um seinem Entsetzen die Stirn zu bieten. Um sich zu beweisen, dass er das fertigbrachte …
»Und ich nehme an, was du da um den Hals trägst, ist der Schlüssel?«
»So ist es.« Losian zog sein Obergewand aus dem Wasser, wrang es aus, hielt es an den Schultern hoch und betrachtete es prüfend. Dieses Frühjahr würde es noch halten, schätzte er. Über den Sommer,
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