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Hiobs Brüder

Titel: Hiobs Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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über den Arm und folgte seinen Freunden zurück ins Freie. »Kann man denn gar nichts für ihn tun?«, fragte er.
    Godric schüttelte den Kopf. »Wenn du versuchst, ihn zum Aufstehen zu bewegen, gerät er völlig außer Rand und Band. Er … na ja, er glaubt so fest an diese Schlange in seinem Bauch, dass er wirklich spürt , wie sie in seinem Innern umherkriecht, verstehst du.«
    »Ehrlich gesagt, nein«, gab Simon verdrossen zurück.
    An die körperlichen Gebrechen seiner Gefährten hatte er sich rasch gewöhnt. Kriegsversehrte und andere Krüppel sah man schließlich alle Tage. Wenn der Abt von St. Pancras versuchen wollte, sie alle einzusperren, hätte er vermutlich festgestellt, dass es nicht genug Inseln vor der englischen Küste gab, um sie aufzunehmen. Aber mit Wahn oder Schwachsinn konfrontiert zu werden, empfand der junge Normanne nach wie vor als beleidigend. Luke mit seiner Schlange im Bauch war ihm unheimlich, und Oswald mit dem komischen Gang und dem ewig offenen Mund, Harold mit dem leeren Blick und all die anderen machten ihn wütend. Er war Simon de Clare , verflucht noch mal! Wie war es nur möglich, dass ihm zugemutet wurde, unter solchen Kreaturen zu leben?
    »Ihr kommt zu spät, ihr jungen Taugenichtse«, grollte King Edmund, als Simon und die Zwillinge die verfallene Kapelle erreichten.
    Godric und Wulfric senkten zerknirscht die Köpfe. »Tut mir leid«, murmelten sie im Chor.
    Simon sagte nichts, sondern betrachtete den Trauerzug, der mit Abstand der erbärmlichste war, den er je gesehen hatte. King Edmund führte ihn an, ein Holzkreuz in der Rechten, dem man ansehen konnte, dass es aus einem Tischbein und einer Dachlatte zusammengezimmert war. Dem vorgeblichen Geistlichen folgten Oswald, Harold, der taubstumme Jeremy und Losian, die den Toten auf den Schultern trugen. Es gab weder Sarg noch Leichentuch.
    Als Nächster kam der zwergwüchsige Wulfstan, dem unablässig Tränen übers Gesicht liefen, dann der Rest des traurigen Häufleins. Wulfric und Godric schlossen sich an, und Simon folgte ihnen, obwohl er nicht wollte.
    Es war gar nicht so einfach, den Toten in Würde auf die Brustwehr zu befördern, denn die Stiege war eigentlich zu schmal für zwei Männer nebeneinander, und die Stufen waren schlüpfrig. Doch die vier Träger gingen langsam und mit Bedacht, und es kam zu keinen makabren Treppenstürzen.
    »Und was nun?«, raunte Simon den Zwillingen zu, als sie alle oben angelangt waren. »Ab über die Brustwehr mit Griff und runter auf den Strand, auf dass die Möwen ein Fest feiern?«
    »Hier stehen die Palisaden direkt am Ufer«, wisperte Godric. »Wir übergeben unsere Toten der See.« Er hob kurz die Hände. »Das Beste, was wir zu bieten haben.«
    King Edmund betete lange auf Lateinisch, und Simon verstand die Worte »resurrectio« und »vita eterna« – Auferstehung und ewiges Leben. Aber sie spendeten ihm keinen Trost. Eines Tages werde ich es sein, den sie von hier oben ins Meer werfen, ging ihm auf. Wenn er Glück hatte, ließen sie ihm vielleicht ein Hemd oder ein paar Beinlinge wie in Griffs Fall. Wenn er kein Glück hatte, würden sie für jeden Fetzen, den er am Leibe trug, Verwendung finden. Die Vorstellung bereitete ihm Übelkeit. Und zum ersten Mal gestattete er sich, Bitterkeit, beinah so etwas wie Hass auf seinen Onkel zu empfinden, der ihn auf die Reise an diesen Ort geschickt hatte.
    »So lasset uns denn beten, wie der Herr uns zu beten gelehrt hat«, forderte King Edmund seine kleine Gemeinde auf Englisch auf, und Simon betete das Paternoster wie alle anderen, murmelte die Worte vor sich hin und wusste doch, dass er Gott fern war.
    Schließlich nickte Edmund den Trägern zu. »Übergebt diese sterbliche Hülle der See und seid frohen Mutes. Denn am Jüngsten Tag wird unser Gefährte Griff mit uns zusammen auferstehen, und das Meer wird nicht mehr sein.«
    Auf Losians Nicken traten die vier Männer näher an die Palisaden, hoben den Leichnam hoch über deren Spitzen und ließen ihn dann geschickt abwärtsgleiten.
    So viel also zu Griff, dachte Simon.
    Wulfstan schniefte.
    Oswald legte ihm einen Arm um die Schultern und wischte ihm mit der Linken ungeschickt die Tränen vom Gesicht.
    Die Zwillinge sahen unverwandt auf die ruhige See hinab.
    »Es gibt einen Sturm«, sagte Wulfric.
    »Was?«, fragte Simon verblüfft. »Und ich dachte, es wird Frühling, habt ihr vorhin noch behauptet.«
    »Er hat trotzdem recht«, versicherte Godric. »Wir sind in Sichtweite der See

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