Hiobs Brüder
die Seite und vergrub den Kopf in den Armen, so wie das kleine Mädchen es getan hatte, und ein eigentümlicher Laut entrang sich seiner Kehle, halb ein schmerzliches Stöhnen, halb ein ungläubiges Lachen. Er fühlte weder Freude noch Schrecken über die Rückkehr zu sich selbst. Sie war zu gewaltig, um überhaupt etwas zu empfinden.
Alan of Helmsby. Ich bin Alan of Helmsby .
Das wusste er ja bereits, aber erst jetzt glaubte er es und verstand, was es bedeutete.
Eine Hand fiel schwer auf seine Schulter. »Alan? Alles in Ordnung?« Die Hand verharrte einen Moment, ehe sie ihn zaghaft rüttelte. »Alan? Verflucht, sag, dass ich dir nicht den Schädel eingeschlagen hab, Cousin.«
»William …«
»Hier bin ich.«
William of Gloucester . Seite an Seite hatten sie den Ritterschlag empfangen, waren gegen die Waliser gezogen und im Winter in den walisischen Bergen fast erfroren. Aus dem belagerten Shrewsbury waren sie entkommen, nur Stunden bevor König Stephen es überrannte und jeden Mann der Garnison aufhängen ließ. Sie hatten in der großen Schlacht bei Lincoln gekämpft und triumphiert, bis eine Streitaxt knirschend durch Alans Kettenhemd gefahren war … Und Williams Vater hatte ihn vom Schlachtfeld getragen: Robert, der mächtige Earl of Gloucester, der diesen verdammten Krieg hätte verhindern und König werden können, wäre er nur kein Bastard gewesen. Aber das war er, ein Bastard von königlichem Geblüt genau wie Alan, und womöglich war dieses gemeinsame Schicksal der Grund, warum Earl Robert Alan – seinen Neffen – immer mehr geliebt hatte als jeden seiner Söhne.
William hatte sich so bemüht, Alan das nicht übel zu nehmen. Aber ihr Verhältnis war immer kompliziert gewesen. Alan erinnerte sich, dass er seinem Cousin stets mit Nachsicht begegnet war, denn er verstand dessen gelegentliche Anflüge von Bitterkeit. Und mit der erschütternden Klarheit, die die dreijährige Abstinenz von seiner Identität ihm beschert hatte, erkannte Alan, dass seine Nachsicht in Wahrheit gönnerhafte Herablassung gewesen war …
»William«, murmelte er wieder, die Augen immer noch fest geschlossen.
»Was?«, fragte sein Cousin. Es klang halb ungeduldig, halb furchtsam.
Es tut mir leid , wollte er sagen. Ich bedaure, dass ich dir die Liebe deines Vaters gestohlen habe . Aber er sprach es nicht aus. Nicht allein, weil es undenkbar war, so etwas zu sagen, sondern weil seine Gedanken längst weitergerast waren, so schnell, dass ihm schwindlig davon wurde. Eine diffuse Übelkeit begleitete diesen Schwindel.
Alan richtete sich ungeschickt auf Hände und Knie auf, kam auf die Füße und torkelte davon, ohne seinen Cousin auch nur einmal anzuschauen.
»Alan!«, rief der ihm nach. »Was ist denn los mit dir? Komm zurück!«
»Lasst ihn lieber«, beschwichtigte die ältere Stimme. »Vermutlich ist ihm schlecht oder so was.«
Aber das war nicht der Grund, warum er floh. Er konnte jetzt nicht sprechen, nicht mit William oder sonst irgendwem. Er hatte keine Zeit. Er musste sich selbst wiederentdecken.
Er gelangte zurück auf den Dorfplatz mit dem Brunnen. Die Kirche und die umliegenden Hütten waren geschwärzte Ruinen, aus denen immer noch Rauch aufstieg, und nirgendwo war ein Mensch zu sehen. Er kam in einen kleinen Garten mit ein paar Obstbäumen und ließ sich in deren Schatten ins duftende Gras sinken. Dann verschränkte er die Arme auf den angezogenen Knien, bettete den hämmernden Kopf darauf und rang darum, die Oberhand über sein zurückgekehrtes Selbst zu gewinnen. Den Alan, der er einst gewesen war, mit dem in Einklang zu bringen, der er heute war. Es erschien ihm so unmöglich, als versuche man, zwei Männer in ein einzelnes Kettenhemd zu zwängen – es ging einfach nicht. Es war einer zu viel. Der Mann, der mit einer Schar Narren und Krüppel in einer verfallenen Inselfestung eingesperrt gewesen und mit ihnen von dort geflohen war, wehrte sich gegen den Fremden, der von ihm Besitz ergriff. Und es war keine allmähliche Unterwanderung, sondern eine totale Invasion.
Einer Panik nahe, suchte er nach der Nahtstelle, die es zwischen den beiden geben musste, und es dauerte nicht lange, bis er fündig wurde. Seine Erinnerungen waren ein aufgewühltes Meer, ein unbeherrschbares Chaos, aber diese eine, die er wollte, stieg plötzlich aus der Flut empor wie eine unverhoffte rettende Insel: Drei Tage hatte er Jagd auf Geoffrey de Mandeville gemacht, den abtrünnigen Earl, der Ely eingenommen und die Kriegswirren
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