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Hiobs Brüder

Titel: Hiobs Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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dann erhob sich ein Schrei. Es war ein lang gezogener, schriller Laut puren Entsetzens. Alan blieb stehen, hob den Kopf und wandte ihn langsam in die Richtung, aus der der beinah unmenschliche Laut kam. Kein Zweifel, es war die Stimme eines Kindes.
    Sein Blickfeld trübte sich und nahm eine eigentümlich rötliche Färbung an. Alan vergaß, wo er sich befand, er vergaß seinen Namen und die Tatsache, dass er vergessen hatte, wer er war. Die Stimme des schreienden Kindes hatte jedes bewusste Denken zum völligen Stillstand gebracht, und als er losrannte, nahm er nicht wahr, wie weich seine Knie waren. Er fühlte nicht einmal seine Füße die staubige Erde berühren.
    Sie waren hinter einer Lehmhütte am Rand des Friedhofs. Das kleine Mädchen war vielleicht sechs Jahre alt, und die drei Soldaten, die sich seiner bemächtigt hatten, hatten ihm den Kittel vom Leib gerissen. Einer hielt die Kleine von hinten an den Oberarmen gepackt, hatte sie hochgehoben und lachte, der zweite starrte auf den kleinen Leib und nestelte unter seinem Kettenhemd. Das Mädchen wand sich und schrie, aber Alan schrie lauter. Wie ein Dämon fiel er über die Kinderschänder her, hieb dem vorderen, der mit dem Rücken zu ihm stand und sich an seiner Rüstung zu schaffen machte, den Kopf mit einem beidhändigen Streich vom Rumpf. Dem nächsten, der einen Schritt zur Rechten stand, den verklärten Blick starr auf das nackte Kind gerichtet und sein steifes Glied in der Hand hielt, stieß er die Klinge seitlich in die Kehle. Da ließ der dritte sein kleines Opfer achtlos in den Staub fallen, wich einen Schritt zurück und legte die Hand ans Heft. Grauen stand in seinen Augen, denn er wusste, er war zu langsam. Ehe die matte Klinge auch nur zur Hälfte aus der Scheide war, spaltete Alan ihm den unbehelmten Schädel. Knirschend befreite er sein Schwert mit einem Ruck und fuhr herum, um Gott weiß was zu tun. Die Erschlagenen in Stücke zu hacken, vielleicht. Die Klinge wieder und wieder in ihr Fleisch zu stoßen, weil sie einfach nicht tot genug sein konnten. Er war kaum weniger außer sich als das kleine Mädchen, das sich auf der Erde zusammengerollt, den Kopf in den Armen vergraben hatte und heulte und schrie.
    Der Anblick des Kindes brachte ihn nicht wirklich zu sich, aber er berührte irgendetwas in ihm. Die Kleine hatte genug gesehen, wusste er. Obwohl er gerade noch rechtzeitig gekommen war, hatte er doch nicht verhindern können, dass sie für ihr Leben gezeichnet sein würde. Vermutlich würde sie vergessen, was geschehen war, aber nichts würde je wieder so sein wie vor dem Tag, da die Soldaten in ihr Dorf gekommen waren. Also ließ Alan die Klinge fallen, statt den grauenvollen Bildern, die sie als dunkle Träume bis ans Ende ihrer Tage verfolgen würden, noch ein paar von verstümmelten Leichen hinzuzufügen. Er fiel vor ihr auf die Knie. Er schrie nicht mehr, aber sein Atem ging stoßweise und keuchend, und der rötliche Schleier vor seinen Augen hatte sich nicht gelichtet. Seine Hände zitterten so schlimm und der Schock hatte seine Finger so taub gemacht, dass er drei Anläufe brauchte, ehe er ihren zerfetzten Kittel aufheben und sie damit bedecken konnte. Nicht anfassen. Nur nicht anfassen. Wie ein Irrlicht schwirrte der Gedanke durch seinen Kopf, ohne dass Alan in der Lage gewesen wäre, den Sinn zu erfassen.
    Dann hörte er hinter sich eine Stimme: »Und was haben wir hier? Einen wahren Kinderfreund?«
    Ehe er sich umwenden konnte, traf ihn ein mörderischer Schlag auf den Hinterkopf, und er war von seinem Entsetzen erlöst.
    Das Gehör kam als Erstes zurück, wie immer.
    »Ich verstehe nur nicht, was er hier tut.« Es war der Mann, der ihn niedergeschlagen hatte, erkannte Alan.
    »Ich schätze, er ist auf dem Weg zu Eurem Vater«, antwortete eine zweite Stimme, älter, gelassener.
    »Einfach so?«, ereiferte sich der Erste. »Drei verdammte Jahre lang ist er wie vom Erdboden verschluckt und taucht dann ausgerechnet mitten in den gottverlassenen Grenzmarken wieder auf, um mit einem Haufen verlotterter Marodeure wehrlose Bauern abzuschlachten?«
    Du ziehst wie üblich die falschen Schlüsse, William , dachte Alan.
    Und dann erstarrte er.
    Das, was auf ihn einstürzte, ließ die Sturmflut auf der Isle of Whitholm wie ein Rinnsal erscheinen. Die Bilder und Gerüche, die Namen und Erinnerungen, die Geschichten und die Worte waren wie ein Mahlstrom, und Alan wurde mitgerissen und fortgespült, vollkommen ausgeliefert. Er rollte sich auf

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