Hiobs Brüder
Söhnchen«, brummte King Edmund, der gleich hinter ihnen ging.
»Ich mein das ganz ernst«, beteuerte Wulfric. »Und ich wüsste wirklich nicht, was wir sonst tun könnten.«
»Womit du wieder einmal beweist, dass du nicht nur ein Großmaul, sondern obendrein auch noch ein Schwachkopf bist«, bemerkte Losian trocken, wurde aber gleich wieder ernst. »Noch regnet es, und es wird mehr oder weniger den ganzen Tag weiterregnen, glaubst du nicht?«
»Doch«, räumte Wulfric ein.
»Macht euch auf die Suche nach irgendetwas, womit wir den Regen auffangen können, denn der Brunnen ist todsicher versalzen, da habt ihr schon ganz recht.«
»Das ist eine großartige Idee«, fand Luke und rieb sich voller Tatendurst die Hände.
Doch ehe sie sich an die Arbeit machten, überquerten sie den verwüsteten Burghof und traten an die Lücke, die die Sturmflut in die Palisaden gerissen hatte und die an die dreißig Fuß breit war. Sie begann gleich neben dem Torhaus, das ebenfalls Schaden genommen hatte, aber da es stabiler war als ein bloßer Zaun, hatte es den mächtigen Wellen getrotzt.
Nebeneinander standen die sieben Überlebenden an der Bresche und starrten auf die See hinaus, während ihre Füße langsam in den eisigen, graubraunen Schlamm sanken. Das Meer war nach wie vor aufgewühlt, und die Wellen, die dort gegen das sandige Ufer schlugen, wo einmal die Anlegestelle gewesen war, wirkten immer noch wütend. So als hätten sie sich noch nicht endgültig entschieden, ob sie wirklich abklingen und zur Ruhe kommen oder nicht vielleicht doch noch einmal anschwellen und die letzten sieben auch noch verschlingen sollten.
Als eine besonders heftige Woge auf das Ufer traf und sich schäumend auf sie zu wälzte, machten Simon und Oswald im selben Moment einen Schritt rückwärts, sahen sich an und tauschten ein unsicheres kleines Lächeln.
»Wer von euch kann fischen?«, fragte Losian plötzlich.
»Wir«, antworteten die Zwillinge. »Aber nicht ohne Leine und Rute«, schränkte Godric ein. »Oder ein Boot und ein Netz.«
»Lasst euch irgendetwas einfallen. Benutzt eure Kleider als Netz. Ihr könnt auch versuchen, eine Möwe damit zu fangen. Aber wir müssen irgendetwas zu essen beschaffen.«
Die Zwillinge nickten. Einen Moment zögerten sie noch, und das war kein Wunder, fand Simon. Vier Jahre lang war das Innere dieser Burg ihre ganze Welt gewesen. Es musste sich höchst eigenartig anfühlen, die Grenze zu überschreiten, die bis gestern unüberwindlich gewesen war, und diese Welt zu verlassen.
»King Edmund«, sagte Losian gedämpft. »Würdest du mit Luke und Oswald alles zusammentragen, was wir noch gebrauchen können?«
»Gewiss, mein Sohn.«
»Und wenn ihr irgendwelche Gefäße findet, stellt sie auf, um Wasser aufzufangen.«
Edmund nickte.
»Ich wäre dir dankbar, wenn du Oswald die Trümmer nicht allein durchsuchen ließest. Gib ihm irgendeine andere Aufgabe. Es wäre möglich …«
»… dass wir einen unserer toten Brüder finden, ich weiß«, beendete King Edmund den Satz für ihn, als Losian zögerte.
Der nickte und stieß hörbar die Luft aus. »Vielleicht auch nur ein Stück von einem unserer toten Brüder«, sagte er leise. In dieser totalen Zerstörung schien jede Schreckensvision möglich.
King Edmund bekreuzigte sich, aber er empfand anscheinend keine Furcht vor seiner Aufgabe. »Und was hast du für Pläne?«
Losian wies auf Simon. »Wir beide gehen auf die Jagd.«
»Mit bloßen Händen?«, fragte Simon zweifelnd. »Ich sag’s ja immer, du musst ein gewaltiger Krieger gewesen sein …«
»Davon weiß ich nichts«, gab Losian kühl zurück. »Aber offenbar kein verzagter Feigling wie du, der schon aufgibt, ehe er sein Glück versucht hat. Und nun komm.«
Seite an Seite wateten sie durch den Schlamm, verließen den Burghof durch die breite Lücke in den Palisaden und wandten sich nach links. Losian kannte das Umland der Burg bis in jede Einzelheit, denn er hatte in den vergangenen zweieinhalb Jahren endlose Stunden auf der Brustwehr verbracht, um es zu betrachten. Hätte er mit einem Stöckchen einen Lageplan in den Schlamm ritzen sollen, hätte er wohl keinen Baum und keinen Strauch vergessen, nahm er an.
Aber viele der Bäume und Sträucher, die sich so unauslöschlich in sein ansonsten gähnend leeres Gedächtnis eingebrannt hatten, waren nicht mehr da, denn auch außerhalb der Burgmauern hatte die Sturmflut gewütet und das Land mit einem Leichentuch aus grauem Schlamm bedeckt.
Südlich
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