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Hiobs Brüder

Titel: Hiobs Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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fürchtest dich vor der Welt da draußen, weil du nicht weißt, wo dort dein Platz ist. Und du nennst mich einen Feigling …«
    Losian fuhr zu ihm herum und ohrfeigte ihn. Es war ein ungehemmter Schlag; hart genug, dass der Junge in den Schlamm geschleudert wurde. Sofort stützte er sich auf die Hände und stemmte sich in eine sitzende Position, stand aber nicht auf und hielt den Kopf gesenkt.
    »Verschwinde«, sagte Losian leise, und seine eigene Stimme erschien ihm fremd. »Geh zurück und hilf den anderen, oder meinethalben versuch dein Glück auf dem Meer.«
    Und damit wandte er sich ab und ging mit eiligen Schritten auf den Saum des Waldes zu. Erst als er ihn erreicht hatte und sich zwischen den nackten Stämmen der ersten Bäume befand, wandte er sich um. Simon saß immer noch im Morast, hatte die Ellbogen auf die Knie und die Stirn in die Hände gestützt, und seine Schultern bebten.
    Losian blickte auf die Hand hinab, die er gegen den Jungen erhoben hatte. Sie war schwielig und groß, mit breiten, starken Fingern. Grotesk. Wie eine Schaufel. Er ballte sie zur Faust und spürte zum ersten Mal bewusst, wie viel Kraft in dieser Hand steckte. Es erschütterte ihn, wie hemmungslos er zugeschlagen hatte. Dieser Vorfall war das erste Mal in seiner Erinnerung, dass er so etwas getan hatte, und er hatte nicht einmal für die Dauer eines Lidschlags gezögert. Ohne jeden bewussten Entschluss hatte er es getan, schnell und unbarmherzig, und nicht nur mit der Hand, sondern mit der Kraft seines ganzen Körpers. Er konnte sich jetzt nicht mehr genau an die Bewegung erinnern, aber ihm schien, als habe er die rechte Schulter und sogar die Hüfte dabei bewegt. Nun, er war Soldat gewesen, es sollte ihn also nicht gar zu sehr verwundern, dass er gelernt hatte, wie man einen wirksamen Schlag führte. Aber trotzdem fühlte er sich grässlich. Es erzählte ihm etwas über den Mann, der er einmal gewesen war, was er nicht wissen wollte. Und als er das erkannte, wurde ihm auch klar, dass er den Jungen geschlagen hatte, weil der die Wahrheit gesagt hatte: Losian fürchtete sich vor der Bresche im Palisadenzaun. Er fürchtete sich bis ins Mark.
    Er ging weiter, drängte all diese beunruhigenden Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Auch die Jagd gehörte offenbar zu den Dingen, die er einmal gelernt hatte. Er wusste, man brauchte ein Pferd und Hunde dafür. Oder einen Falken. Pfeil und Bogen, einen Speer oder eine Schleuder. Er hatte nichts von alldem. Trotzdem ging er tiefer in den Wald, und ohne es zu merken, achtete er darauf, dass er den Wind im Gesicht hatte.
    Es war ein nasser, stiller, melancholischer Wald, und obwohl der Schnee geschmolzen war, war die Stimmung noch winterlich. Nur dann und wann hörte Losian den Ruf eines Vogels, und das durchweichte Laub unter seinen nackten Füßen strahlte eisige Kälte aus. Dennoch hob sich seine Stimmung. Am Stamm einer alten Buche blieb er stehen, warf einen kurzen Blick über die Schulter, um sich zu vergewissern, dass niemand ihn sehen konnte, und dann schlang er die Arme um den Stamm und presste die Wange an die Rinde, die sich gar nicht so glatt anfühlte, wie sie aussah. Auch der Baum war nass, aber Losian bildete sich ein, der Stamm spende ihm Wärme, und eine geraume Zeit verharrte er reglos, sog den herben Duft von Holz, feuchter Erde und verrottendem Laub in tiefen Zügen ein und ergötzte sich an diesem kleinen Stück Freiheit. Für einige wenige, selige Augenblicke dachte er an gar nichts, existierte einfach nur im Einklang mit dem Baum, dem Regen und dem grauen Himmel. Dann kam ein Eichhörnchen herbeigehuscht, das ihn anscheinend für ein Stück Baumstamm hielt. Es kletterte an seinem Bein hoch, erklomm seinen Rücken und sprang von seiner Schulter an den Baumstamm, um den es dann pfeilschnell und in engen Runden nach oben lief, als führe eine unsichtbare Wendeltreppe hinauf. Losian legte den Kopf in den Nacken, um ihm nachzuschauen, und der Regen fiel ihm in die Augen.
    Ohne Hast ging er in südöstlicher Richtung weiter. Das Frühjahr war die ungünstigste Zeit, um im Wald irgendetwas Essbares zu finden. Eicheln, Nüsse und Bucheckern waren längst vom Wild aufgefressen, für Pilze war es zu spät und für das erste Grün noch zu früh. Seine einzige Hoffnung war, dass auch die Tiere am Ende des Winters nicht mehr viel Nahrung fanden und deshalb geschwächt waren. Er hatte einen faustgroßen Stein aufgehoben, hielt ihn in der Hand und schaute sich

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