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Hiobs Brüder

Titel: Hiobs Brüder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rebecca Gablé
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nickte. »Er fehlt mir«, gestand sie. »Aber vor allem fehlt er Wallingford. Solange er noch da war, hatten wir Hoffnung. Immerhin hat er es zweimal gegen Stephens Truppen gehalten. Aber jetzt ist alle Hoffnung verloren.«
    »Sagt das nicht«, widersprach er. »Henry Plantagenet wird kommen und die Belagerung aufheben, Ihr werdet sehen. Und …«
    »Nur wann er zu kommen gedenkt, hat er in seinem Brief zu erwähnen vergessen«, unterbrach sie bitter. Dann stand sie auf. »Es besteht keine Veranlassung, mir schöne Lügen aufzutischen, nur weil ich eine Frau bin, de Clare.«
    »Es war keine Lüge. Er wird kommen, so schnell er kann.«
    Sie warf einen kurzen Blick durch die schmale Scharte auf den Streifen Finsternis draußen und trat an den Tisch, auf welchem Henrys Brief ausgebreitet lag. »Dies ist die dritte Belagerung von Wallingford, die ich erlebe, Monseigneur. Darum haben die Männer mich zum Kommandanten gewählt, nachdem mein Vater gestorben war, weil ich besser als jeder von ihnen weiß, wie man diese Burg verteidigt. Aber wir können nicht mehr viel länger aushalten. Wir sind nur noch fünfunddreißig. Die anderen sind tot oder haben sich nachts von der Brustwehr abgeseilt und sind geflohen. Wer weiß, vielleicht sind sie auch übergelaufen. Unsere Vorräte sind beinah erschöpft. Erschöpft sind auch die Menschen. In spätestens einem Monat wird Wallingford fallen.«
    »Euer Vater hätte Euch von hier fortbringen sollen, solange noch Zeit war«, bemerkte er kritisch. »Euch und die übrigen Damen.«
    Philippa hob die schmalen Schultern; es war eine müde Geste. »Wir hatten nicht genügend Zeit, denn die Belagerung begann ohne Vorwarnung. Unsere Späher wurden vermutlich abgefangen. Aber ich wäre so oder so nicht gegangen.«
    »Warum nicht?«
    »Wallingford ist mein Zuhause. Ich habe nie irgendwo anders gelebt.« Sie schien einen Moment unentschlossen, ob sie mehr sagen sollte. Sie sah ihn forschend an – und obwohl er in seinen feuchten Kleidern fror, fühlte er seine Wangen unter diesem eindringlichen Blick heiß werden. Dann fuhr sie fort: »Mein Vater war ein großer Mann, und der alte König Henry hat ihn sehr geliebt. Aber er war ein Bastard, Monseigneur.« Sie brach ab.
    Simon nickte. »Ein Sohn des Grafen der Bretagne. Darum nannten sie ihn ›fitzCount‹.«
    »So ist es. Hier in Wallingford halten die Menschen sein Andenken in Ehren und sind stolz darauf, wie teuer er dem alten König war. Draußen in der Welt interessiert das niemanden mehr. Hier schätzen die Menschen auch mich. Da draußen habe ich niemanden. Ich wäre nur die Tochter irgendeines unbedeutenden Bastards. Sie würden mir mit Verachtung und Häme oder – schlimmer noch – Mitleid begegnen. Davor fürchte ich mich. Mehr als vor Stephens Soldaten.«
    Simon schlug die Beine übereinander und sah zu ihr auf. Er war beeindruckt von ihrer Geradlinigkeit und Aufrichtigkeit. Vermutlich werden Menschen unter Belagerung so, nahm er an. Wer sein Ende vor Augen hat, der hat keine Zeit mehr, sich etwas vorzumachen. »Häme, Verachtung und Mitleid sind nicht so schlimm, wie Ihr vielleicht glaubt«, hörte er sich sagen. »Vor allem für jene, die sich dem mühevollen Prozess unterzogen haben, sich selbst und ihren eigenen Wert zu erkennen. So wie Ihr, zum Beispiel.«
    »Oder Ihr.« Sie stand reglos am Tisch, eine Hand auf dem Brief. »Was wisst Ihr über diese Dinge?«
    Er lächelte. »Ich habe die Fallsucht.«
    Nie zuvor hatte er das jemandem freiwillig gestanden. Und er hätte nicht für möglich gehalten, dass er je in der Lage sein würde, es so gelassen auszusprechen, gar mit einem Lächeln. Aber bei ihr war es leicht.
    Sie erwiderte das Lächeln. »Und doch zählt Ihr zu Henry Plantagenets engsten Vertrauten«, bemerkte sie. »Jedenfalls schreibt er mir das.«
    »Ja. Ich glaube, es stimmt. Er hat die seltene Gabe, über ein Gebrechen hinwegzusehen und nur den Menschen zu betrachten. Er ist … ein sehr außergewöhnlicher Mann.« Simon stand vom Fenstersitz auf und trat zu seiner Gastgeberin. »Ihr könnt ihm trauen, Madame. Er wird kommen, ich schwöre es.«
    »Wann?«
    »Vor dem Frühling.«
    »Unsere Vorräte reichen bis Allerheiligen. Bestenfalls. Sagt ihm, wenn er bis dahin nicht gekommen ist, kann er sich den Weg nach Wallingford sparen.«
    Wie die Burgbewohner hatte auch Simon sich in der Halle in die Binsen gelegt, eingerollt in eine geborgte Decke. Miles Beaumont hatte ihm einen Platz nah am abgedeckten Feuer gewiesen, und

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