Hiobs Brüder
so waren Simons Kleider allmählich getrocknet. Aber er kam nicht zur Ruhe. Die Vorstellung, dass Philippa of Wallingford nur ein paar Schritte entfernt hinter einer Bretterwand allein in ihrem Bett lag, brachte ihn ebenso um den Schlaf wie die verzweifelte Lage, in der sie und die anderen Menschen in dieser Burg sich befanden. Bis Allerheiligen waren es nur noch sechs Wochen. So schnell konnte Henry nicht hier sein, wusste Simon. Sollte er ihr das sagen? Oder war es besser, ihr einen Funken Hoffnung zu lassen und um ein Wunder zu beten? Er hatte keine Ahnung.
Gegen Mitternacht kamen zehn Männer von der Wache, weckten die Kameraden, die sie ablösen sollten, und legten sich auf deren warme Plätze. Bald herrschte wieder Stille in der Halle, aber Simon lag weiterhin mit brennenden Augen in der Dunkelheit, bis der Morgen graute und die Menschen sich erhoben, um einen neuen Tag des Hungers und des Schreckens zu beginnen.
Lady Philippa kam aus ihrer Kammer, setzte sich in der Mitte der Tafel auf die Bank, und als sie das Kreuzzeichen schlug, folgten die anderen ihrem Beispiel. Der Kaplan hatte sich im Juli bei Nacht und Nebel davongemacht, erfuhr Simon später. Darum mussten die Menschen in Wallingford neben allem anderen auch noch auf geistlichen Beistand und den Trost der Sakramente verzichten.
Sie beteten still, ein jeder hielt für sich Zwiesprache mit Gott. Dann erhob sich die schwangere Dame und legte auf den Tisch, was sie auf dem Schoß gehalten hatte: einen Laib Brot. Es war ein großer Laib, aber es saßen mehr als zwei Dutzend Menschen am Tisch – alle, die nicht auf Wache waren.
Die Hüterin des Brotes begann, dünne Scheiben abzuschneiden, und reichte sie herum. Als Simon an der Reihe war, schüttelte er lächelnd den Kopf.
»Esst«, befahl Miles Beaumont, und mit einem Blick auf Philippa fügte er gedämpft hinzu: »Beleidigt sie nicht, Mann.«
Unschlüssig ergriff Simon die Brotscheibe. »Also gut. Danke.«
Es war bröckelig und schmeckte schauderhaft, denn es bestand fast nur aus Kleie – all dem, was beim Mehlsieben übrig blieb. Kleiebrot wurde für gewöhnlich an die Pferde, Kühe und Schweine verfüttert. Aber Pferde, Kühe und Schweine gab es in Wallingford nicht mehr, und die hungrigen Menschen verzehrten das Viehfutter mit mühsam beherrschter Gier. Simon hatte gerade den letzten Bissen heruntergewürgt, als draußen eine misstönende Glocke zu schlagen begann. Alle am Tisch Versammelten standen auf.
»Es geht los«, sagte Beaumont grimmig zu Simon, und noch ehe der Gast sich nach dem Sinn dieser Worte erkundigen konnte, hörte er ein Pfeifen, das immer lauter und lauter wurde, im nächsten Moment vernahm er ein fürchterliches Krachen, und der steinerne Boden unter seinen Füßen erzitterte.
Die Schwangere schrie auf, und eins der Kinder fing an zu weinen.
»Keine Angst«, sagte Philippa. »Schsch, keine Angst. Das war nur das Obergeschoss, und das haben sie schon vor zwei Monaten zerlegt. Dieser Bergfried ist stark. Er hält stand. Na los, worauf wartet ihr? Jeder auf seinen Posten.«
Simon hatte an Henrys Seite manche Belagerung erlebt, aber auf der Seite der Eingeschlossenen fand er sich nun zum ersten Mal. Eilig verließen die Verteidiger von Wallingford den Bergfried und begaben sich auf ihre Stellungen auf der Brustwehr der äußeren Palisade. Simon stand neben Beaumont und beobachtete, wie König Stephens Soldaten in vielleicht zweihundert Schritt Entfernung die Trebuchet wieder spannten und beluden, die den Felsbrocken auf den Bergfried geschleudert hatte. Diese moderne Belagerungsmaschine war ein Katapult mit einem langen Wurfarm, der vermittels eines schweren Gewichts in die Senkrechte schnellte und sein Geschoss mit gewaltigem Schwung auf sein Ziel schleuderte. Um ihn zu spannen, mussten zwei Männer in ein Laufrad steigen, das einen Mechanismus betrieb, welcher das Gewicht in die Höhe hievte und den Arm zurück in die Waagerechte legte. Das dauerte ein Weilchen, doch unterdessen begann auf der Ostseite der Einfriedung der Beschuss mit brennenden Speeren, die von den kleineren, leichter und schneller zu spannenden Ballisten abgefeuert wurden. Die Kinder, zwei Mägde und ein alter Graubart standen im Schutz des Torhauses bereit, um Brände zu löschen, eine lange Reihe gefüllter Eimer vor sich. Und auf der Brustwehr über dem Torhaus standen ein Dutzend Verteidiger, darunter Philippa of Wallingford und die übrigen Damen, und schossen mit Pfeil und Bogen auf die
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