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Hiobs Spiel 1 - Frauenmörder (German Edition)

Hiobs Spiel 1 - Frauenmörder (German Edition)

Titel: Hiobs Spiel 1 - Frauenmörder (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tobias O. Meißner
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Kannibalen zu paktieren, um überhaupt den Ort des Geschehens erreichen zu können. Wie sollte das denn noch weitergehen? Da musste ein für alle Mal ein Riegel vorgeschoben werden, auf diese linke Art durfte das Spiel nicht fortgesetzt werden. Leider hatte Hiob noch nicht die geringste Idee, was er dagegen tun konnte. Er hatte allerdings gehört, dass nicht weit von Berlin, an den Ufern der Müritz, eine Schiedsrichterin namens Eidry Gevicius ihr Quartier aufgeschlagen hatte. Er nahm sich jetzt schon fest vor, nach der Beseitigung der Manifestation dort hinzugehen, um formellen Protest einzulegen. NuNdUuN hatte also, dachte er lächelnd, nur etwa siebzig Jahre Zeit zu versuchen, die Frau zu bestechen.
    Sie saßen jetzt in einem geradezu unerträglich laut röhrenden Bus, der Schneefall war immer dichter geworden. Da innen etliche Sitzbänke frei gewesen waren, hatten sie sich durchs Dach tropfen lassen und sich hingesetzt. Als eine ländliche Dame zustieg und sich Munsa nichtsahnend auf den Schoß setzte, hatte der historische König seinen Spaß. Er machte mit den Hüften obszöne Aufwärtsstöße und grinste Hiob dabei mit der Zunge zwischen den Zähnen an. Tatsächlich brach der Frau nach einiger Zeit der Schweiß aus, aber das konnte auch an den Wechseljahren liegen. Hiob saß daneben, am Fenster, und betrachtete das vorbeiziehende Deutschland der zwanziger Jahre.
    Hier, in den unerschlosseneren Gebieten Bayerns, war von »Golden« oder »Roaring« nichts zu spüren. Hier hielt Armut die Rücken gebückt, und viele der Leute draußen entblößten beim Stöhnen skorbutäre Gebisse. Anders als in den Neunzigern, wo es noch keinem weinerlichen Ossi-Arbeitslosen jemals wirklich existenziell dreckig gegangen war, starben hier die Leute wirklich. Verhungerten vor Kälte.
    Seltsam, dachte Hiob. Für diese merkwürdigen Wesen dort draußen mit den erschreckend ausrasierten Frisuren und den tief in den Höhlen liegenden Augen, auch für die überwiegend hässlichen, grobgesichtigen Frauen war der Nationalsozialismus noch nicht mehr als ein vielleicht schon einmal vage gehörtes Gerücht, das Besserung versprach. National konnte man gut brauchen, nachdem der verlorene Krieg und die Versailler Verträge das Selbstbewusstsein der Deutschen mit eisernem Stiefel in den Matsch getreten hatten, und sozial war mehr denn nötig, konnte doch jeder sehen, dass Kleinkinder krepierten und die Unbeschäftigten nichts mehr zu tun wussten, als sich zu raufen und zu beißen. Und war denn Ismus nicht die Endung jeder Kunstform und jeder Gesinnung, die auf eine Zukunft hinwies?
    Dies hier waren die Menschen, die in kaum fünfzehn Jahren Sündenböcke in rußige Schlachthäuser dirigieren würden. Dies hier waren die Kinder, die ihre Hände bereits einmal an der heißen Herdplatte des Krieges verbrannt hatten, aber dennoch begierig wieder zugriffen. Dies hier waren die Monster, die dafür verantwortlich waren, dass, wie Walter Jens es einmal ausgedrückt hatte, das politische Deutschland in Auschwitz Selbstmord beging. Und irgendwo, nur weiter westlich von hier, tollte Hiobs eigener geliebter Großvater als siebenjähriger Junge durch die Gegend und war einer von ihnen.
    Was für ein Wahnsinn war es, Deutscher zu sein, von diesen erbärmlichen Gestalten abzustammen, die in einer dünnschissfarbenen Massenbewegung buchstäblich ihr Heil suchten, deren kollektiv repressierter Sadismus sich rotschäumend über einem ganzen Kontinent entlud, bis hinein nach Russland, bis hinüber nach Afrika.
    Afrika. Hiob sah kurz verstohlen zu Munsa hinüber, und der entgegnete den Blick und nickte grimmig, als hätte er jeden einzelnen von Hiobs Gedanken mitverfolgt.
    Je weiter sie aufs Land kamen, desto weiter schien sich auch die Verkehrstechnik in die Vergangenheit zurückzudrehen. Sie fuhren ein Stückchen mit auf einem von einem mageren Gaul gezogenen Karren, und als es dann irgendwann ganz dunkel geworden war und im Dunkel dieser Zeiten wohl niemand mehr unterwegs sein wollte, mussten sie zu Fuß gehen. Hiob jedoch war das ganz recht. Er hatte sich beim Verlassen des hiesigen Ulmer Münsters durch einen einfachen Blick über die Schulter davon überzeugen können, welchen Anteil siebzig Jahre Auspuffgase an der schleichenden Schleifung dieses stolzen Gebäudes gehabt hatten. Böser Mumbo-Jumbo eben.
    Hier draußen, im tiefen bayrischen Winter, war die Luft irgendwie klar, irgendwie klärend, das konnte sogar einer spüren, der nicht wirklich atmete.

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