Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
Altenpflege übergab, darum gekümmert, dass ich eine Bleibe hatte, eine verwanzte Ein-Zimmer-Klitsche oben im Wedding. Das bisschen Zeug, das meine Kindheit und meine Pubertät überstanden hatte, war in Kartons dorthingeschafft worden und wartete darauf, von mir ausgepackt zu werden. Und dabei fiel sie mir in die Hand: die absurdeste Waffe aller Zeiten. Ein Messer mit einer neun Zentimeter langen, leicht seitlich gekrümmten Klinge, mit einem Hischhorn imitierenden Plastikgriff, in einer echten Lederscheide, auf der vorne maschinell die Worte MONT ST. MICHEL eingestanzt waren und hinten drauf mit Kugelschreiber und in der feinen, gleichmäßigen Handschrift meiner Mutter geschrieben stand: Hiob Montag, Kl. 6a , weil ich dieses Messer in Ermangelung eines richtigen Taschenmessers mal als Sechstklässler auf eine Klassenfahrt mitgenommen und damit einen Ast beschnitzt hatte, um darauf Marshmallows zu spießen und sie über einem blakenden Lagerfeuer irgendwo im Westerwald schmelzen zu lassen, bis sie überhaupt nicht mehr schmeckten. Mein Pappa hatte mir dieses Messer gekauft, auf einem dieser typisch deutschen Familienurlaube in der Bretagne, da war ich vielleicht neun oder zehn Jahre alt. Ich kann mich noch heute gut erinnern an den Mont St. Michel, diese beeindruckende Abtei-Festung, die bei Flut zur Granitinsel wird, und die innen aus steilen, touristenvollen Wandelgässchen besteht. Außerdem gefiel mir der Gedanke, ein von Benediktinern zur reinen kapitalistischen Verramschung erzeugtes, geschmackloses Souvenirprodukt – ein Messer von Mönchen – wieder einem spirituellen Zweck zuzuführen. Echtes Blut statt Geld. Na ja, und der Name Mont St. Michel ließ sich doch auch witzig ausdeuten: Mont steht für Montag, St. ist der Heilige, und Michel ist zweifellos Deutscher. Montag, Geheiligter unter den Deutschländern, wird neuester Anwärter im ältesten Spiel.
Das war es. Dieses ulkige Messer, bretannischen Ursprungs, doch Begleiter meiner Kindheit, würde es sein. Dann konnte ich ja immer noch wie ein guter amerikanischer Drehbuchserienmörder irgendetwas Kryptisches mit dem Blut von Doktor Wothe klieren, um Symbolismen auf die Spitze zu treiben.
Ich wollte keine Zeit verlieren. Nicht tagelang Pläne und eventuelle Reuetentakeln mit mir herumschleppen wie Dostojewskis Raskolnikov. Ich wollte es durchziehen, eröffnen, das Spiel endlich anfangen. Vorhang auf, das Spiel beginnt.
Yay, jetzt kommen die Seiten, die die ungeliebten Schwestern überhaupt nicht finden dürfen. Nicht um meinetwillen, natürlich. Wegen ihres Seelenheils.
Ich hatte die Adresse von Doktor Wothe aus dem Telefonbuch. Ich hatte eine ziemlich frische Erinnerung an seine Augen vor neunzehn Jahren, was mich in die Lage versetzte, ihn unter anderen Leuten herauszuerkennen. Ich hatte ein Messer in der Jackentasche. Mehr Mord braucht kein Mensch.
Ich observierte das Häuschen im lieblichen Grünen, denn natürlich war es ein solches, der Mann hatte schließlich nicht für nichts und wieder nichts Medizin studiert. Ich wollte rauskriegen, ob er Familie hatte und wo ich am besten an ihn alleine rankommen konnte, möglichst ohne dabei gesehen zu werden. Schon am ersten Tag meiner Wacht konnte ich aufschnappen, wie er sich mit einem Nachbarn darüber unterhielt, dass seine Frau für eine Woche verreist sei, auf einer Tagung, offensichtlich war sie auch von gesellschaftlichem Status. Mir egal und umso besser. Er war allein, ich hatte eine ganze Woche Zeit. Ich ging schon am ersten Abend rein, durch eine Terrassentür, die er nicht abgeschlossen hatte. Dies schien eine sichere Gegend zu sein. Oder aber Einbrecher brechen sowieso nicht ein, wenn sie am Licht in den oberen Fenstern erkennen können, dass jemand zu Hause ist. Nun, ich war ja nicht gekommen, um einzubrechen.
Lautlos bewegte ich mich in meinen Basketballschuhen durch das gediegene Interieur des Erdgeschosses. Fand die gewundene Treppe nach oben. Nahm Stufe um Stufe und war überhaupt nicht aufgeregt. Mein erster Mord zwar, auch mein erstes widerrechtliches Eindringen in ein gut situiertes Anwesen, aber ich hatte gerade zwei Jahre in einer Friedhofsgruft hinter mir und hatte dabei unter anderem mit dem Teufel geplaudert – ich war in ziemlich abgeklärter Verfassung.
Der Mann, der mir aus meiner Ma geholfen hatte, saß oben an einem gut beleuchteten Schreibtisch und verglich gerade Artikel aus mehreren medizinischen Fachmagazinen miteinander. Er wandte mir den vornübergebeugten
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