Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
hing, wie Wotan mit seinen eigenen Haaren an einen Quer-Ast gebunden, unter einem furchtbar verzerrten Baum aus reinstem Schwarz und blutete helles Rot aus mehr Wunden, als man zählen konnte. Es war fast ein Regen, der unter ihm den Boden netzte. Aydin lebte noch. Er zappelte schwach in einem nicht vorhandenen Wind.
Die Anhöhe zu dem Baum hatte mehr als vierzig Prozent Steigung. Hiob musste die Hände zwischen die Wackersteine zu Hilfe nehmen. Die Stimmgabel hatte er dabei hinten in den Hosenbund gesteckt. Keuchend und etwas schwindelig kam er oben an, rutschte in Aydins Blut aus und fiel auf den Bauch. Er stemmte sich wieder hoch.
Aydins Haare waren in Wirklichkeit nicht so lang wie hier, wo sie sich mehrmals um den Ast wickelten. Aber vielleicht sollte das ja nur die Dauer der Zeit symbolisieren, die der Türke schon hier gefangen war. Die Wunden an seinem nackten Körper sahen aus, als hätten zweihundert Scherenschleifer ihre Scheren an ihm geschliffen. Hiob wollte gerade die Stimmgabel ansetzen, um Aydin mit der fremdartigen Schwingung aus dem Traum herauszurütteln, als ein Mann hinter dem Baum hervortrat.
Der Mann war sehr groß und sehr mager. Seine schwarze Stoffkleidung war so eng anliegend, dass man die Beckenknochen wie Tassenhenkel hervorstehen sehen konnte. Die schwarz geschminkten riesigen Augen in dem eigentlich schönen Gesicht waren weit aufgerissen, die ebenfalls schwarz bemalten Lippen fest aufeinandergepresst. Die Arme leicht vom Körper abgewinkelt, kam der Mann mit merkwürdigen, einen Fuß exakt vor den anderen gestanzten Schritten auf Hiob zu.
Hiob kannte diesen Mann, genauso wie er die Stadt gekannt hatte. Das war Cesare, der Somnambule, gespielt von Conrad Veidt. Der schauerlichste Killer der gesamten Filmgeschichte, trotz Michael Myers, trotz Jason Vorhees und Leatherface. Weder Cesare noch die Stadt hatte er jemals vorher so echt und so greifbar vor sich gesehen, aber dennoch war es, als träfe er gefürchtete Bekannte aus seiner eigenen Vergangenheit hier an. Und gerade weil er Cesare erkannte, beschleunigte sich Hiobs Herzschlag. Panik wallte in ihm auf. Er musste jetzt ruhig bleiben. Er schlug die Stimmgabel am Pflasterboden an und wollte sich in die Höhe recken, um Aydins rotüberlaufene Füße damit zu berühren, als Cesare plötzlich dieses lange Messer in der Hand hielt. Es gab eine verwischte Bewegung, Blut sprühte aus Hiobs Pulsschlagader, und die Stimmgabel flog in hohem Bogen davon und ging irgendwo jenseits des Abhangs verloren.
Hiob wurde fast ohnmächtig, so stark war der plötzliche Schmerz. Er klammerte sich selbst mit der Linken die durchtrennten Sehnen und Blutgefäße der Rechten zusammen und starrte zitternd den Stummfilmalbtraum an, der jetzt in voller Ausprägung vor ihm stand. Cesare hatte neues Blut gefunden, seine schlafwandlerische Contenance war dahin. Seine Mundwinkel waren nach hinten verzerrt, die Zunge halb gerollt zwischen den Reißzähnen sichtbar, die Augen flackerten in diesem irren expressionistischen Feuer, und beide Hände waren wütend zappelig erhoben, obwohl nur in einer die blutige Klinge winkte. Wenn Hiob jemals in seinem Leben von einer Manifestation gehört hatte, dann war das hier eine. Er hatte sich unter Wert verkauft.
Die Wut gab ihm die Kraft anzugreifen. Er schlug seinen Oberkörper wie eine Keule gegen den nur aus Haut und Knochen bestehenden Massenmörder. Lautlos taumelte Cesare einen Schritt zurück, lautlos kam er wieder nach vorne und stach zweimal den scharfen Stahl in Hiobs gekrümmte linke Schulter. Mit dem reinen Klang der Stimmgabel hätte Hiob Cesare, dem kein Ton gegeben war, wahrscheinlich töten können, aber das war jetzt vorbei, diese Möglichkeit war weit außer Reichweite.
Das ist nur ein Traum , schrie Hiob sich selbst zu, das ist nur ein Traum . Aber es war eben doch nicht sein Traum, und dieser Traum lief weiter. Er spürte Cesares kalkweiße Hand in seinem verschwitzten Gesicht, als der ausgemergelte Nachtmahr ihn mit unverfälschter Gewalt nach hinten umbog. »Wach auf!«, flehte Hiob sowohl sich selbst als auch Cesare als auch vielleicht den viel zu weit entfernten Aydin an. »Bitte ... wach doch auf!« Es war wie ein Kitzeln, als Cesare ihm die Klinge unterhalb des Bauchnabels ansetzte, eindrückte und mit einem klaffenden Schnitt bis unters Brustbein hochzog. Hiob fiel auf den Rücken, sonst wäre er vielleicht noch vor dem Stillstand seines Herzens in seinem eigenen Blut ertrunken. Die Pein nahm ihm
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