Hiobs Spiel 2 - Traumtänzer
die Kraft zum Schreien.
Das war es dann also. Kein gewöhnlicher Tod, fürwahr. In einem fremden Traum. Von einem schlafenden Mann. Aufgetrennt.
Mit einer Distanz zum eigenen Sterben, die selbst schon wieder etwas Schlafwandlerisches an sich hatte, bog sich Hiob ein letztes Mal auf die Füße. Er hörte seine schlüpfrigen Eingeweide aus der Bauchtasche gleiten und divers aufs Wegpflaster klatschen. Cesare starrte ihn an und grinste lauernd, ein schwachsinniges Instrument seines Herrn und Meisters. Hiob tanzte wacklig in seinen eigenen Schmerzen herum, und dann, als der Tod ihn schon fast im vollen Galopp auf seine Turnierlanze gespießt hatte, sprang Hiob hoch, umklammerte die verschmierten Beine Aydins und schrie: »Spring! SPRIIIIIIIIIIIINNNNNNNNNNNGGGGGGG!«
Es war wie in einem eigenen Traum. Wenn man fällt, kurz bevor man aufschlägt, kommt das Erwachen. Immer eine Hundertstelsekunde dem Tod voraus.
Hiob übertrug die Energie dieser Hundertstelsekunde auf den vielfach geöffneten Leib des gefolterten Türken. Der zuckte und wand sich – und schraubte sich so aus seinem eigenen Traum heraus. Hiob ließ sich einfach mitziehen. Es funktionierte.
Während Aydin Ince – durch den Schock des jähen Erwachens aus jeglicher Verankerung gerissen – in einem schaumsprühenden epileptischen Anfall das Bett jetzt auch in Wirklichkeit zum Zusammenbruch brachte, rollte Hiob schreiend und beide Hände ins Bauchfell gekrallt von der Matratze bis gegen eine Wand und kotzte dort wirre Muster gegen die Tapete. So fand man die beiden und den Teddybären Stunden später in der kleinen Bettkammer liegen. Die Kammer wurde danach zwei Tage lang gereinigt und desinfiziert. Da keiner der beiden jungen Männer letzten Endes ernsthafte Verletzungen davongetragen hatte, konnte Hiob am folgenden Tag von Neriman Ince ausbezahlt werden. Der Vater war von den Methoden des Vierteljuden immer noch nicht begeistert, aber Kamber war gegenwärtig und sorgte für zwischenmenschliches Schönwetter.
Hiob, der den ziemlich in Mitleidenschaft gezogenen Teddy schon beim ziemlich erbosten Wagsal abgeliefert hatte, fühlte sich zu abgeschlafft, um sich bei irgendwem darüber zu beschweren, dass er bei der Beseitigung eines Prognosticons um ein Haar von einer leibhaftigen Manifestation umgebracht worden war. Immerhin hatte er den Spielpunkt gewonnen, denn es war nie um die Beseitigung Cesares gegangen, nur um die Befreiung Aydin Inces. Und dann waren da noch die süßen fünfzigtausend Mark, eine Summe, mit der sich selbst ein Postmaterialist eine ganze Menge Scheiße leisten konnte.
Hiob hatte keine Lust, darüber nachzudenken, wie es überhaupt dazu hatte kommen können, dass ein junger Türke vom Geist des deutschen Expressionismus ins Trauma getrieben wurde. Es gab eine gewisse Folgerichtigkeit in diesem Phänomen, eine Verbindung, die auch schon Siegfried Kracauer zwischen Caligari und Hitler postuliert hatte und die eine Weiterführung in unsere neubraune Gegenwart erlebte, aber all diese Gedanken waren abstrakt und entgingen Hiobs lauen Versuchen, sie vollends zu erhaschen.
Letzten Endes, dachte sich Hiob grimmig, spielt es ja eh keine Rolle, warum irgendetwas so passiert, wie es passiert. Wichtig ist nur, dass man dafür bezahlt wird, etwas dagegen zu tun.
Prognosticon 8: Am Ende mit Weisheit
Der Gipfel menschlicher Erkenntnis ist es,
die Nichtigkeit des Irdischen zu erkennen.
(Lord George Gordon Noel Byron)
Langsam und deshalb unbemerkt von jenen, die davor hätten warnen müssen, war das Wetter verrückt geworden.
Nachdem der Oktober so kalt gewesen war, dass man schon die dicksten Winterpullover hatte anziehen müssen, um nicht dem Erfrierungstod nahe zu kommen, brachte der November eine Hitze mit sich, die an ein Siechenhaus gemahnte. Die Sonne klebte matt am Himmel wie ein Brandloch, aber über dem Boden war eine bedrückende Schwüle. Laub faulte auf den Wiesen und in den Rinnsteinen. Die Exkremente der Hunde und Betrunkenen in den Straßen bildeten ein vielstimmiges und lautes Orchester des Gestanks. Das Licht war meistens schief, schien irgendwie von unten zu kommen und machte Schatten lang oder verbog sie zu schrecklichen Zerrbildern. Die Menschen lagen fiebernd in ihren Betten oder schleppten sich, Rotz versprühend, zur Arbeit. Ein schneereicher Dezember war prophezeit worden. Aber genauso war ein frostiger November prophezeit worden. Einige Zeitungen dachten laut darüber nach, die Prügelstrafe für Meteorologen
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