Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
ein unbeschriebenes Blatt?«
»So in etwa. Aber das wird vorübergehen, sagen die Ärzte. Sehr wahrscheinlich jedenfalls. Hoffen wir es. Ich erzähle Ihnen das nur deshalb, damit Sie bei Ihrem Besuch nicht überrascht sind und sich richtig verhalten. Sprechen Sie mit ihr ganz entspannt, aber stellen Sie keine Fragen. Auch Eva-Maria lassen Sie bitte unerwähnt. Am besten erzählen Sie ihr etwas ganz Unverfängliches, zum Beispiel, wie schön das Piemont im Sommer ist und dass sie sicherlich bald wieder völlig gesund wird.«
»Piemont ist nicht nur im Sommer schön, auch im Herbst und im Winter.«
»Noch besser. Und das mit der Amnesie, das behalten Sie bitte für sich.«
»Selbstverständlich, Sie können sich darauf verlassen.«
Fabri setzte sich matt auf einen der orangefarbenen Plastikstühle im Flur, den Blumenstrauß immer noch fest in den Händen.
»Entschuldigen Sie, aber das ist momentan alles ein bisschen viel für mich.«
Hipp nickte verständnisvoll. »Eva-Maria, Sabrina …«
»Nicht nur«, unterbrach ihn Fabri. Dann erzählte er von seinem verschwundenen Vater und von seiner Mutter, die in der letzten Nacht nur mit Schlaftabletten etwas Ruhe gefunden hatte.
Hipp ließ Fabri reden und hörte aufmerksam zu. Es schien, dass der Unglückstag auch sonst unter keinem guten Stern gestanden hatte. Jedenfalls traf dies für jenen kleinen Flecken südlich von Alba zu, der sich ansonsten vermutlich durch eine friedliche Ereignislosigkeit auszeichnete.
Als sie sich schließlich verabschiedeten, nahm Hipp eine Einladung entgegen, Fabri im väterlichen Weingut zu besuchen. Er dachte, dass das keine schlechte Idee wäre, schließlich hatte er schon länger keinen Barolo* mehr verkostet. Eine sträfliche Nachlässigkeit. Und außerdem könnte er sich bei dieser Gelegenheit den Unfallort anschauen.
Einige Minuten später stand Hipp vor der Klinik Le Molinette. Er setzte die Sonnenbrille auf und überlegte, wohin er seine Schritte lenken sollte. Er war früher schon einige Male in Turin gewesen. Er mochte die frühere Residenz des Königreichs Savoyen, die auch die erste Hauptstadt des geeinigten Italien gewesen war, mit ihren endlos langen Arkadengängen, der mal barocken, dann wieder klassizistischen Altstadt, den vielen traditionsreichen Kaffeehäusern. So gesehen hatte er nichts dagegen, dass es ihn gerade hierher verschlagen hatte – wenn ihm schon nicht vergönnt war, sein
dolce far niente
in der Toskana fortzusetzen, vorläufig jedenfalls.
Er nahm einen Bus zum Ponte Vittorio Emanuele, sah hinunter auf den träge dahinfließenden Po, dachte über Fabri nach und über dessen verschwundenen Vater, erfreute sich am Blick auf die Kirche Gran Madre di Dio und den Monte dei Cappuccini, trank unter den Arkaden der Piazza Vittorio Veneto einen Bicerin, eigentlich ein wunderbares Getränk für den Winter, aber ihm schmeckte diese göttliche Mischung aus Schokolade, Kaffee und Milch zu jeder Jahreszeit – selbst an einem schwül-heißen Sommerabend. Dabei sinnierte er über Sabrina, über ihr wiedererlangtes Bewusstsein, über ihren Gedächtnisverlust. Vor einer Stunde erst hatte er mit ihrem Vater in Kalifornien telefoniert. Überglücklich war Roberto Valentino gewesen, vor allem auch über das ärztliche Bulletin, aus dem hervorging, dass Sabrina – abgesehen vom Schädel-Hirn-Trauma und einigen Prellungen – wie durch ein Wunder keine schweren Verletzungen erlitten hatte. Am liebsten hätte Roberto das nächste Flugzeug bestiegen, aber die Ärzte hatten ihm dies strikt verboten, zu kurz erst lag seine Herzoperation zurück. Also müsse sich Hipp weiter um seine Tochter kümmern, hatte er gesagt, er werde ihn dafür bezahlen, zu dem üblichen Tagessatz, den er sonst bei seinen Ermittlungen verlange.
Hipp trank den Bicerin aus, legte einige Münzen auf den Tisch und spazierte die Via Po entlang in Richtung Piazza Castello. Dass er das Honorar mehrfach abgelehnt hatte und nur die Spesen ersetzt bekommen wollte, hatte Roberto jedes Mal energisch zurückgewiesen. Ganz offenbar wollte er Hipp in die Pflicht nehmen und sich nicht auf eine Gefälligkeit verlassen. Vor allem, da es jetzt darum ging, Sabrinas Amnesie zu überwinden. Für diese Aufgabe sei er als Psychologe ja geradezu prädestiniert. Es hatte nichts geholfen, dass Hipp ein paar Mal auf seine diesbezügliche Inkompetenz hingewiesen hatte.
Hipp blieb stehen und betrachtete im Schaufenster einer Confiserie das reichhaltige Sortiment an Schokoladen,
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