Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
Recht gehabt? War Fabri ihm vielleicht sogar begegnet? Sie glaubte ohnehin fortwährend, ihn irgendwo in der Menge zu erkennen, was sich aber regelmäßig als Trugschluss herausstellte. Außerdem hatte sie schlechte Augen.
»Tre giorni fa«, begann Fabri seinen Bericht schon im Hinsetzen, »vor drei Tagen ist er da gewesen. Alessandro, der Barkeeper, hat ihn auf dem Photo zweifelsfrei erkannt. Er wusste sogar den Namen von unserem Papà. Sie haben sich lange über Wein unterhalten.«
»War er in Begleitung?«
Fabri nahm die Hände seiner Mutter und sah sie traurig an. »Sì, Mamma, in Begleitung.«
»Und? Sie war jünger als ich, du kannst es ruhig sagen.«
»Sì, jünger, viel jünger. Sie hatte blonde Haare.«
Luciana fasste sich an die Schläfen. »Una bionda? Gianfranco, caro Gianfranco, was machst du für Sachen?«
Sie hörten einige Minuten wortlos den Klängen der Kapelle zu, die einen Walzer von Johann Strauß spielte. Dann fragte Luciana: »Und jetzt? Che cosa facciamo adesso?«
»Ich fürchte, es macht keinen Sinn, hier weiter nach ihm zu suchen.«
»Perché?«
»Weil er Alessandro erzählt hat, dass er überraschend wieder abreisen müsse. Er habe einen wichtigen Termin in Mailand.«
39
A uf der Autofahrt von Erbusco nach Verona, auf der A4 an Brescia vorbei, an Desenzano und Peschiera am Gardasee, ließ Sabrina den gestrigen Tag Revue passieren. Ein Tag voller objektiver Höhen und subjektiv empfundener Tiefen. Wer, so dachte sie, in einem luxuriösen Hotel wie dem L’Albereta* wohnt, dort im Pool schwimmt, abends im Lokal von Gualtiero Marchesi sein berühmtes Safran-Risotto und andere Köstlichkeiten serviert bekommt, der sollte eigentlich nicht von Tiefen sprechen. Nein, wirklich nicht. Auch der Besuch bei Ca’ del Bosco* war zweifellos ein Highlight gewesen. Schon der Fußweg vom Parkplatz über die romantische Brücke hinauf zum Hügel mit der modernen Plastik. Der herzliche Empfang durch Maurizio Zanella, die Führung durch den spektakulären Weinkeller, die große, unterirdische Kuppel, die Verkostung der Weine mit der unvergleichlichen Franciacorta Cuvée Annamaria Clementi an der Spitze. Ein Tag, wie er eigentlich hätte kaum schöner sein können. Wäre da nicht? Ja, wäre da nicht die Tatsache, dass sie Maurizio Zanella zweifellos kannte, er ihr aber vorgekommen war wie ein Fremder, wie jemand, dem sie noch nie begegnet war. Die Kuppel? Noch nie gesehen! Das Hotel, in dem sie schon einmal mit ihrem Vater gewohnt hatte? Kein Déjà-vu. Dabei hatte man ihr sogar den alten Eintrag im Gästebuch gezeigt, mit dem sie sich für den angenehmen Aufenthalt bedankt hatten. Nun, das immerhin war positiv gewesen, wenn auch schon fast ein wenig unheimlich.
Nach dem Abendessen nämlich hatte ihr Hipp einen Zettel hingeschoben, ihr einen Stift gegeben und sie aufgefordert zu unterschreiben. Sofort und ohne nachzudenken. Weil sie nicht mehr ganz nüchtern gewesen war, hatte sie diesem Wunsch unverkrampft entsprochen. Erst dann waren sie zur Rezeption gegangen, und Hipp hatte ihr das Gästebuch gezeigt. Sie spürte die Tränen in ihren Augen, als sie den kurzen Text gelesen hatte. Vom großen Glück, mit seiner wunderbaren Tochter hier nächtigen zu dürfen, hatte ihr Vater geschrieben.
Wortlos hatte Hipp dann den Zettel aus dem Restaurant auf das Gästebuch gelegt. Ihre Unterschrift, sie war identisch, bis hin zu diesem albernen Schnörkel am Ende ihres Nachnamens. Am liebsten hätte sie die Seite aus dem Gästebuch herausgerissen. Diese war nicht nur ein zweifelsfreies Dokument aus ihrer Vergangenheit, sondern auch eine Liebeserklärung ihres Vaters – und ein Beweis, dass sie sich doch an etwas aus ihrer Biographie erinnern konnte, auch wenn es vorläufig nicht sehr viel mehr war als ihre Unterschrift.
Ein Tag also war das gewesen mit Höhen und Tiefen. Mit Tiefen? Das Gespräch mit Hipp über die potentiell Verdächtigen war ihr nicht aus dem Kopf gegangen. Bill, ihr Stiefbruder, er war zumindest ein Lügner, wenn nicht sogar mehr. Eva-Marias Exfreund, wie hieß er doch gleich, Giovanni Martino, ein eifersüchtiger Liebhaber, der in seinem Stolz verletzt war? Und schließlich Fabris untergetauchter Vater Gianfranco, der offenbar jüngere Frauen mochte. Jüngere Frauen, die in ihrem eigenen Alter waren. Könnte es sein, dass Gianfranco Angelo auch hinter ihr hergewesen war, dass sie vielleicht sogar ….? Nein, das konnte und durfte nicht sein. Sie versuchte, diesen ekelhaften Gedanken zu
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