Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
verdrängen.
Sabrina blickte hinüber zu Hipp am Steuer ihres Leihwagens. Er fuhr ruhig und entspannt. Nicht allzu schnell, sehr gleichmäßig, ohne häufig zu bremsen oder hektisch Gas zu geben. Sie fühlte sich sicher. Das wiederum sollte sie als Erfolgserlebnis werten, denn nach ihrem schweren Unfall hätten ja zweifellos traumatische Ängste zurückbleiben können. So gesehen waren bereits diese Autofahrten ein bedeutender Behandlungserfolg. Hipp warf einen Blick zur Seite, sah sie an und lächelte. Immerhin, auch eine Form der Kommunikation. Denn dass er kaum sprach, damit war sie mittlerweile vertraut. Es war ja noch Vormittag, da war Hipp wie immer ziemlich wortkarg. Hipp war wie ein guter Wein, der nach dem Dekantieren erst langsam aus dem Schlaf erwachte, zu atmen begann und gemächlich seinen wahren Charakter entwickelte.
Sabrina dachte an die vergangene Nacht, wie sie lange wach gelegen und überlegt hatte, ob sie erneut zu Hipp ins Bett kriechen sollte. In der Stimmung wäre sie gewesen. Um ehrlich zu sein, nicht nur um zu kuscheln. Aber Hipp schien das Versprechen, das er ihrem Vater gegeben hatte, ernst zu nehmen, allzu ernst. Dass er ihre weiblichen Attribute sehr wohl zur Kenntnis nahm, nun, daran bestanden keine Zweifel. Sie erinnerte sich an die Dachterrasse des Hotels in Mailand, wo er sie im Bikini gemustert hatte. Oder gestern Abend, als er sie im Flurspiegel verfolgt hatte, als sie nackt aus dem Badezimmer gekommen war. Sie hatte seinen Blick genau gespürt. Frauen können das, auch mit dem Rücken. Was brauchte es noch, um ihn aus der Reserve zu locken und ein lächerliches Versprechen vergessen zu lassen? Eigentlich hatte sie nach ihrem provokanten Gang vom Bad ins Schlafzimmer erwartet, dass die männlichen Hormone den Rest erledigen und er bald zu ihr kommen würde. Aber entweder war er ausgesprochen willensstark und unnatürlich pflichtbewusst, oder es stimmte was nicht mit ihm – was sie nicht hoffte.
Gegen ein Uhr liefen sie durch Verona, über die weitläufige Piazza Brà mit der großartigen Arena hinüber zur Via Mazzini. Das Phänomen war ihr mittlerweile vertraut und ganz ähnlich wie mit dem Wein. Ebenso selbstverständlich, wie sie wusste, dass Sangiovese* die prägende Rebsorte im Chianti* war, in ihrer Spielart Prugnolo Gentile auch für den Vino Nobile di Montepulciano* und als Sangiovese grosso für den Brunello* verantwortlich, mit der gleichen Sicherheit konnte sie Hipp erklären, dass das Amphitheater aus dem ersten Jahrhundert stammte, damit eines der ältesten Italiens war, und dass in der Arena Giuseppe Verdis Oper
Aida
erstmals 1913 aufgeführt wurde, und zwar zu seinem hundertsten Geburtstag. Auch hatte sie den Weg zum Parkhaus an der Piazza Cittadella gekannt. Aber sobald es persönlich wurde, ließ ihr Gedächtnis sie prompt im Stich. Ob sie unter den grünen Markisen schon mal einen Cappuccino getrunken hatte? Ob sie in der Arena eine Oper besucht hatte, und wenn ja, mit wem? Fehlanzeige. Daran konnte sie sich partout nicht erinnern.
Eine halbe Stunde später saßen sie in der Bottega del Vino*, zusammen mit Fabri und seiner Mutter, die sich auf der Rückreise von Venedig ins Piemont befanden. Fabri hatte diese Osteria im Herzen des Centro storico vorgeschlagen, was kaum überraschend war, wenn man sah, mit welcher Hingabe hier Weinflaschen entkorkt, an Korken geschnuppert und in Gläsern geschwenkt wurde. Dass es dazu auch eine deftige Küche gab, Sabrina hatte als Hauptgericht Costolette di agnello alla griglia con pesto di rucola bestellt, passte zum Ambiente. Fabri ließ es sich nicht nehmen, etwas über die Weine der Region zu philosophieren, über den so häufig unterschätzten Soave*, der an seinem Billigimage freilich selbst schuld sei, über den Bianco di Custoza* und den Valpolicella*, der es als schwergewichtiger Amarone* durchaus mit einigen Weinen aus dem Piemont aufnehmen könne, und über den Bardolino*, der noch einiges aufzuholen habe, aber als Superiore ganz in Ordnung sei. Sich an dessen Weinkenntnisse erinnernd, überließ er es Hipp, zunächst einen Weiß- und dann einen Rotwein zu bestellen. Ohne die Weinkarte anzusehen, entschied sich Hipp für einen Capitel Croce von Anselmi* und einen Valpolicella Classico Superiore von Bertani*. Eine Wahl, die Fabris uneingeschränkte Zustimmung fand. Sabrina merkte, dass sich die beiden hinsichtlich ihrer Weinvorlieben gut verstanden.
Später erzählte Fabri vom Ergebnis ihrer Recherchen in
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