Hippolyt Hermanus 01 - Vino Criminale
Eva-Maria einen gelben Seidenschal trug? Und wo kam dieses zweite Auto her, das sie von hinten bedrängte? Welche Farbe hatte es doch gleich? Rot, richtig, rot war es. Rot wie der Alfa Romeo von Gianfranco Angelo. Aber warum nur? Warum?
Sie schloss die Augen, in der Hoffnung, dass sich der Traum fortsetzen würde. Aber sie hörte nur das monotone Brummen der Flugzeugmotoren.
Am Flughafen Malpensa in Mailand angekommen, suchte sie nach dem Gate für ihren Anschlussflug über New York nach San Francisco. Sabrina lief an einem großen Plakat vorbei, auf dem für das Reiseland Piemont geworben wurde. Es kam ihr vor, als ob sie jemand Unsichtbares festhalten würde, als ob eine Stimme flüstern würde: Schau doch her. Hier, dein Traum! Sie blieb stehen und betrachtete das Plakat. Tatsächlich, die Weinberge kamen ihr auf seltsame Weise vertraut vor, auf dem Hügel das Castello mit den vier Ecktürmen, im Hintergrund die schneebedeckten Berge. Eine Straße schlängelte sich durch die Rebstöcke. Fehlten nur noch der blaue Fiat, der rote Alfa und der hagere Mann, der aussah wie eine Vogelscheuche.
Die Erinnerung, sie kam unablässig näher, das spürte sie. Aber wenn sie erst in diesem Flugzeug nach San Francisco saß, dann würde sie sich wieder von ihr entfernen – vielleicht für immer. Gewiss, Hipp und ihr Vater hatten Recht, ihr Schutzengel hatte sich wahrhaft eine Pause verdient. Aber sie konnte und wollte nicht weiterleben mit diesem großen schwarzen Loch in ihrer Vergangenheit. Wieder sah sie auf das Plakat. Sie musste zurück an den Ort, wo das Unglück passiert war. Zurück in die Langhe, nach Alba Barolo und Monforte, dort, wo die Rebstöcke voll mit Nebbiolo hingen, wo es nach Mandeln roch – wo Eva-Maria gestorben war, Gianfranco seine Familie verlassen und sie ihr Gedächtnis verloren hatte.
Keine drei Stunden später stieg sie in Turin aus dem Zug. Fabri erwartete sie am Bahnsteig, schloss sie in die Arme, nahm ihr die Tasche ab und führte sie zu seinem Wagen. Sie hatte ihn vom Flughafen in Mailand angerufen, er hatte sich sofort bereit erklärt, sie in Turin abzuholen, mit ihr nach Monforte zu fahren und ihr baldmöglichst den Unfallort zu zeigen.
»Irgendwie ist mir nicht wohl dabei«, meinte Fabri auf dem Weg durch den Bahnhof. »Ich finde, wir sollten Hipp anrufen und ihm sagen, dass du nicht im Flugzeug nach San Francisco bist, sondern hier bei mir.«
Sabrina schüttelte energisch den Kopf. »Nein, genau das möchte ich nicht. Ich will endlich auf meinen eigenen Füßen stehen. Hipp hat sich rührend um mich gekümmert, aber ich muss lernen, mein Leben wieder selbst zu leben. Was soll mir schon passieren?«
Fabri sah Sabrina verzweifelt an. »Mein Vater ist auf der Flucht. Ich war mit ihm verabredet, er ist nicht gekommen. Jetzt sucht die Polizei nach ihm.«
»Nach Monforte wird er sich nicht trauen, hier kennt ihn doch jeder.«
»Ich kann es immer noch nicht glauben. Mein Vater soll auf dich geschossen haben? Wieso sollte er das tun?«
Sabrina hakte sich bei Fabri unter. »Genau das möchte ich herausfinden. Deshalb bin ich hier. Mit meinem Vater habe ich telefoniert. Ich habe ihm gesagt, dass ich erst in zwei Tagen kommen kann, weil ich bei der Zwischenlandung in New York aussteige und eine gute Freundin besuche, an die ich mich wieder erinnert habe.«
»Hast du?«
»Nein, natürlich nicht.«
»Gut gelogen. Meine Mutter erwartet uns zum Abendessen.«
»Schön, ich freue mich darauf.«
»Die Stimmung wird nicht die beste sein«, beugte Fabri vor.
»Das kann ich mir denken.«
»Übrigens, du kannst bei uns übernachten.«
»Danke, nein. Ich schlafe lieber in einem Hotel.«
»In Ordnung. Ich besorge dir ein Zimmer in der Villa Beccaris*. Aber sperr gut zu. Ich bring dich hin und hol dich ab. Jetzt bin ich dran, auf dich aufzupassen.«
Sabrina lächelte. »Sieht ganz so aus. Also gib dir Mühe.«
57
V on Montalcino war Hipp noch am späten Nachmittag an Siena und Monteriggioni vorbei über Colle di Val D’Elsa und der Etruskerstadt Volterra zu dem kleinen Haus inmitten der alten Olivenbäume gefahren, wo erst vor wenigen Wochen alles angefangen hatte. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er mit einem Buch über die Medici im Schoß in seinem Liegestuhl wohlig geschlummert und ihn der Anruf von Sabrinas Vater aus seinen süßen Träumen vom
dolce far niente
gerissen hatte.
In der Abendsonne betrachtete Hipp die Rosen neben der Pergola. Man musste kein Gärtner sein, um zu
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