Hirngespenster (German Edition)
kriegen. Immerhin will sie kaum was für die ganzen Näharbeiten haben.«
Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Sehr wohl sogar. Doch mit dem Küssen war es so eine Sache, so recht hatten sie sich noch nicht getraut. Dabei rückten sie oft ganz nahe zusammen und hielten sogar manchmal Händchen. Aber es war so, als sei eine unsichtbare Barriere zwischengeschaltet, die das Küssen verhinderte. Heute mach ich's, nahm sie sich vor. Wenn ich den Schnitt für die Hose fertig und ihn Olga rübergebracht habe, dann geb ich alles. Und wenn von ihm nichts zurückkommt, na, dann war's das eben. Genauso hatte sie ihre Kündigung bei Matthei Anfang der Woche durchgezogen, auch wenn er es den ganzen Tag über vermieden hatte, einen Termin mit ihr zu vereinbaren. Offensichtlich hatte er geahnt, was auf ihn zukam.
»Frau Forbes, bitte tun Sie mir das nicht an«, hatte er gesagt, als sie schließlich in sein Büro geplatzt war.
»Herr Matthei, ich glaube wirklich, es ist für alle Beteiligten das Beste, wenn ich gehe. In den letzten Wochen hatte ich außerdem den Eindruck, als wollten Sie sich selbst eher früher als später von mir trennen.«
»Aber nein, aber nein! Das haben Sie ganz falsch aufgefasst! Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, so war das. Sie wirkten immer so abwesend, und da fragt man sich eben, was los ist.«
»Ich habe mir das reiflich überlegt«, erwiderte Sabina, »ich möchte etwas Eigenes machen, etwas, an dem mein Herz hängt. Hier war ich schon lange nicht mehr mit dem Herzen dabei, war geistig abwesend, Sie haben das schon ganz richtig eingeschätzt.« Mit diesen Worten hatte sie ihm ihre Kündigung auf den Tisch gelegt, war in ihr Büro zurückgegangen und hatte mit den Vorbereitungen für ihr Ausscheiden begonnen – insbesondere dem Löschen ihrer persönlichen Daten hatte sie viel Zeit gewidmet. Da sie noch Resturlaub hatte, blieben ihr nur noch wenige Tage, um die Übergabe an einen Nachfolger vorzubereiten. Und dann – dann war sie frei.
Sabina faltete das Schnittmuster zusammen und warf Alex einen warmen Blick zu, der auf ihrem Sofa saß und im Businessplan blätterte.
»Ich bringe das mal eben rüber«, raunte sie und verschwand aus der Wohnungstür, um bei Olga zu läuten.
»Kommst du kurz rein?«, bat Olga, als sie Sabina erblickte.
»Äh. Ich habe eigentlich keine Zeit, ich habe Besuch«, erwiderte Sabina und übergab Olga die Hose, die diese lächelnd entgegennahm.
»Der junge Mann ist?«, fragte Olga und strich verstohlen über den schimmernden Stoff.
Sabina zögerte und blieb im Hausflur stehen. »Olga, ich weiß, du hast mich gewarnt – aber mir wäre es lieb, wenn wir kein weiteres Gespräch …«
Olga nickte. »Viel Spaß, Sabina«, wünschte sie und tätschelte ihr den Arm, »wir kennen reden andere Tag.« Sie tippte auf die Hose: »Werde ich gleich probieren! Passt bestimmt.«
»Die Frau ist so was von neugierig, sie wollte mich glatt über dich ausquetschen«, lachte Sabina, als sie wieder zurück in ihre Wohnung kam und sich zu Alex aufs Sofa setzte.
»Ich bin auch neugierig«, lächelte er und wandte sich ihr zu.
»Auf was?«
Alex rückte noch ein Stück näher und betrachtete sie liebevoll. »Wann du mich endlich einmal küsst.«
Silvie
Viele Mütter landen irgendwann in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses, weil sie überlastet sind. Oder sagen wir mal: einige. Einige wenige, vielleicht. Wie auch immer – dass Anna ein paar Probleme hatte, das war kein Geheimnis, davon wussten wir alle. Matthias konnte uns das auch plausibel erklären, wie es zu ihrem Kollaps an jenem Abend Anfang Dezember gekommen war. »Anna hat was falsch verstanden«, erklärte er uns im Flur des Krankenhauses. »Sie denkt, unser Haus kommt unter den Hammer.«
Ich wollte das genauer wissen. »Deine Geschäfte sind doch mal 'ne Zeitlang schlecht gelaufen, du hast weniger Objekte verkauft und konntest ein paar Raten nicht bezahlen. Wie sieht's denn damit aus – läuft der Laden jetzt besser?«, fragte ich rundheraus.
Matthias kniff die Lippen zusammen. Wahrscheinlich wunderte er sich, dass auch ich über alles informiert war. Dann sagte er süffisant: »Das ist bei Leuten, die wie dein Johannes jeden Morgen brav zur Arbeit gehen und nix anderes machen als das, was der Vorgesetzte sagt, dafür aber jeden Monat ihr Geld einsacken, natürlich kaum vorstellbar. Aber bei Selbständigen läuft nie ein Monat wie der andere. Ich bin in eine kurzfristige Schieflage geraten, weil einige
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