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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Keller
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dass sie hier zuerst suchte, aber andererseits hielt er sie vielleicht für so dumm, dass sie es gerade deswegen sein ließ. Vorsichtig holte sie den Stapel hervor, den sie sich schon unzählige Male angesehen hatte. Sie wusste, dass es genau dreiundzwanzig Briefe waren, teilweise verschlossen. Der gesuchte Umschlag war nicht darunter.
    Er hatte sie wohl doch nicht für so dumm gehalten – oder aber ganz im Gegenteil, er wusste, dass sie so blöd war, hier wieder und wieder nachzusehen. Langsam schob sie die Lade wieder zu und blickte sich unschlüssig um. Es blieben noch mindestens vier Schubladen und fünf Ablagekörbe, die sie sich vornehmen musste. Mit einem Mal hielt sie inne, meinte, ein Geräusch zu hören. Schnell knipste sie das Licht aus und schalt sich insgeheim für ihre eigene Dummheit, nicht an eine Taschenlampe gedacht zu haben. Vielleicht war Matthias von dem Lichtschein im Flur wach geworden? Klopfenden Herzens lauschte sie in die Dunkelheit. Wenn er sie hier entdeckte, würde er sie totschlagen, diesmal wirklich. Sie hätte eine ihrer Pillen nehmen sollen, bevor sie sich auf den Weg machte, hatte es aber in der Aufregung vergessen, so wie sie die Sache mit dem Brief überhaupt vollkommen versaut hatte – sie könnte ihn längst in der Tasche haben, nein, noch besser, sie könnte längst wissen, was darin stand! – Ein – aus – ein – aus – beruhigte sie sich. Tiiief durchatmen. – Ein – aus – ein – aus. Erneut betätigte sie den Lichtschalter, horchte wieder. In ihren Ohren begann es zu rauschen. Immer lauteres Rauschen erfüllte den Raum, wie ein sich ausbreitendes Gas. Man konnte meinen, es bewege sich ein Düsenjet direkt auf Bad Homburg zu, und doch wusste sie, dass ihre Phantasie ihr wieder einmal einen Streich spielte, dass es mucksmäuschenstill war im Haus. Anna tappte schnell zur nächsten Schublade – bis jetzt war sie viel zu langsam vorgegangen. Was, wenn Matthias ihr Fehlen im Bett bemerkte? Oft genug war sie selbst schon davon aufgewacht, wenn er plötzlich nicht mehr neben ihr lag. Im Schlaf nahm man wahr, dass der Herzschlag des anderen ausblieb, der Atem nicht zu hören war. Wenn er kam und sie entdeckte, dann war alles aus. Das Rauschen in ihrem Kopf war kaum auszuhalten, als sie in die nächste Schublade griff, sich die Briefe darin vornahm. Wieder war nicht der richtige Umschlag dabei. Oder doch? Hatte sie im Eifer etwas übersehen? Nein. Aber wo konnte er ihn haben? Möglicherweise hatte er ihn unter seine Matratze gelegt; vielleicht dachte er sich schon, dass sie danach suchen würde. Fieberhaft arbeiteten sich Annas Finger durch die nächsten beiden Schubladen und die Ablagekörbe. Kein Umschlag des Landgerichts, keiner der Volksbank. Sie wühlte im Papierkorb, zog Ordner aus dem Schrank, blätterte, heftete ein, was im Eifer herausgefallen war, legte zurück, packte um. Als sie sich schließlich nach Minuten des Weggetretenseins umsah und das Chaos betrachtete, das sie angerichtet hatte in dem kurzen Zeitraum, in dem sie nicht mehr auf Vorsicht bedacht gewesen war, sondern lediglich eine Suchende, da entdeckte sie die Briefe.
    Wie raffiniert Matthias war! Er hatte ihn ohne Umschlag an die Magnettafel direkt vor ihrer Nase geheftet. Deutlich war das Wappen des Landgerichts zu erkennen. Und im Betreff: 2. VORLADUNG. Ihre Augen glitten zu dem Schreiben direkt daneben – dem Schreiben der Frankfurter Volksbank, im Betreff die Worte ZWANGSVOLLSTRECKUNG DES WOHNHAUSES BOMMERSHEIMER WEG.
    Anna ließ sich auf den Schreibtischstuhl sinken und starrte die beiden Schreiben an. Sie sollte sich hier und jetzt die Pulsadern aufschlitzen, dann hätte sie alles hinter sich. Warum aufs Frühjahr warten?
    Plötzlich spitzte sie die Ohren. Mit Grauen hörte sie ein ihr nur allzu vertrautes Geräusch. Luna schrie. Sie stieß dieses gellende Schreien aus, ein Schreien, als würde sie bei lebendigem Leibe zerfetzt. Anna blieb wie angewurzelt sitzen, meinte, die Welt bliebe stehen und werfe sie mit sich aus der Umlaufbahn. Was, wenn Matthias nun aufwachte? Verschwinden wollte sie, weg sein, sich auflösen im Nichts der Nacht, draußen auf einer Bank liegen, erfrieren im ersten Frost des Winters und nie wieder aufwachen. Sie schaltete das Licht aus und blieb zitternd und schlotternd im Dunkeln sitzen, dachte an kleine Nagetiere, die sich an ihren nackten Füßen zu schaffen machen wollten, und lauschte hilflos, wie der Düsenjet auf dem Dach ihres Hauses landete.

    Wir sitzen mal

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