Hirngespenster (German Edition)
mich nicht lange mit meinem Schal auf, den ich mir nur leicht über die Schultern geworfen hatte, verschloss den Wagen und schritt langsam auf ihn zu, ließ ihn nicht aus dem Augen, bis ich vor ihm stand und er mich in seine warmen Arme zog.
Wenn man verliebt ist und sich lange nicht gesehen hat – und drei Wochen waren für uns eine lange Zeit –, dann ist es, als küsse man sich zum ersten Mal wieder. Wir standen in der Kälte seines Hausflurs und hielten uns fest, bis wir uns anlachten und dann mit leichten Küssen begrüßten, die mir einen Schauer über den Rücken jagten. Schließlich zog er mich mit sich nach oben und führte mich ins warme Badezimmer, wo er eine Wanne für uns vorbereitet hatte. Er zog mich aus, mit warmen Händen streifte er mir die Kleider vom Leib, umfasste meinen kalten Po und wehrte lachend meine Versuche ab, ihn meinerseits auszuziehen – meine Hände waren zu kalt. Langsam glitten wir hinein in das warme Wasser, küssten uns, küssten und küssten. Ich war überglücklich, ihn zu sehen.
Nach dem Bad tauschten wir Geschenkpäckchen aus, ohne sie auszupacken – dies sollte in einer stillen Minute am Heiligen Abend geschehen, um zwanzig Uhr –, wir wollten sie in einer Art gedanklicher Vereinigung gleichzeitig öffnen.
Ich frage mich noch heute, wie ich es geschafft habe, danach wieder zu Johannes zurückzukehren. Es fiel mir unendlich schwer, schwerer als je zuvor. Ich war nervös, ob Jens mein Geschenk gefallen würde, ein Foto von mir. Es zeigte mich lachend im Garten meiner Eltern; ich saß mit angewinkelten Beinen auf einem alten Baumstamm, zu dessen Füßen Margeriten blühten. Es war vor der Schwangerschaft mit Nils entstanden.
Gleichzeitig war es mir egal, was er mir schenkte. Es hätte eine Packung Seife sein können, ganz egal, mir war alles recht. Und mir wurde zum ersten Mal klar, dass ich ihn liebte. Noch nie hatte ich jemanden so sehr geliebt wie Jens.
Am Heiligen Abend packte ich zur verabredeten Zeit sein Geschenk in unserem Badezimmer aus. Es war ein MP3-Player, vollgepackt mit Musik, die ich liebte: The Cure, Level 42, Depeche Mode, Incognito, Hothouse Flowers und Horse. Musik, zu der ich früher getanzt und gesungen hatte, nicht ahnend, dass »The Cure«, diese Band in Gothic-Klamotten, ausschließlich von der Liebe sang. Dazu Musik, die ich durch ihn kennengelernt hatte: Foo Fighters, Pohlmann, Steely Dan und Tele. Ein unverfängliches Geschenk – und trotzdem so persönlich, dass ich weinen musste. Wir schickten uns eine SMS, in der wir uns sagten, dass wir uns liebten, und danach ging ich zurück ins Wohnzimmer zu Johannes, der mit Nils die erste Holzeisenbahn seines Lebens aufbaute. Ole lag auf dem Rücken unter dem Baum und beschäftigte sich mit einer Christbaumkugel – er konnte noch nicht krabbeln, rollte sich überall hin. Der idyllische Anblick schnürte mir die Kehle zu, ich war zerrissen, wünschte mir zwei Dinge gleichermaßen: zu Jens zu fahren und in seine Arme zu sinken, und gleichzeitig, ihn niemals kennengelernt zu haben.
Ich liege in Johannes' Arm, wir sitzen auf dem Sofa vorm Fernseher, und Sabina sitzt neben uns und zeichnet auf ihrem großen Block. Vor uns auf dem Boden liegen Stapel von Blättern, die sie schon vollgezeichnet hat, dazwischen hocken Nils und Ole und essen Gummibärchen. Ich durfte auch ein paar haben, aber bei mir wird immer alles streng rationiert. Im Fernsehen läuft die Sendung mit der Maus; es geht um Berufe, und heute ist der Arzt dran. Es ist ein Unfall passiert, und mit Tatütata kommt der Rettungswagen herangeprescht. Ein Verletzter liegt auf dem Boden vor einem Gebäude, und jede Menge Schaulustige stehen herum. Johannes wischt sich plötzlich die Augen und vergräbt seine Nase in meinem Haar. Sabina wirft Ole und Nils einen unsicheren Blick zu, doch die beiden gucken unbehelligt weiter auf den Bildschirm. Schnell legt sie den Block beiseite und kommt ganz nah zu uns rübergerutscht.
»Ich hatte diese Szene schon fast wieder vergessen«, sagt Johannes und deutet auf den Bildschirm. »Als ich letztens mit Sven über Silvie sprach, da habe ich kein gutes Haar an ihr gelassen. Dass sie sich immer nur nehmen wollte, was sie brauchte und so. Aber das war unfair, ich hab ihr auch nie gegeben, was sie gebraucht hat. Hab nicht mehr dran gedacht, wie wenig das Leben wirklich für sie übrighatte. Ich hab immer nur an dich gedacht, und da wundere ich mich, dass sie mir zu verstehen gegeben hat, dass ihr etwas
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