Hirngespenster (German Edition)
fehlt.«
Immerzu tun sie, als wäre ich gar nicht vorhanden, wenn sie sich unterhalten. Tun, als sei ich Luft.
Sie streichelt seine Wange. »Immerhin hast du sie geheiratet. Du warst wild entschlossen, mit ihr zusammenzubleiben.«
»Sabina, ich habe dich nicht finden können, du warst ja wie vom Erdboden verschluckt. Ich hätte alles aufgegeben, um mit dir zusammen zu sein! Verstehst du, ich hätte sie verlassen!«
»Du hättest meine Eltern anrufen können, die Nummer hattest du.«
»Ja. Aber dann war sie schwanger, das war was anderes.«
»Genau. Sag ich doch, dass du super anständig warst. Du solltest dir nicht vorwerfen, dass du sie nicht genug geliebt hast. So was kann man nicht steuern.«
Ich nicke. Nein, so etwas kann man nicht steuern.
»Könnt ihr mal leise sein?«, fragt Nils vorwurfsvoll. »Ich versteh gar nix.«
Johannes flüstert weiter: »Und manchmal wieder, dann denke ich, ihr ging es mit mir genauso. Sie hat sich mich nur ausgesucht, weil sie gesehen hat, wie sehr ich dich vermisst hab. Das hat sie beeindruckt, das wollte sie auch haben.«
Sie küssen sich, und Sabina legt ihre Stirn an seine. Dann sagt sie: »Vielleicht gehörte Silvie zu den Menschen, die die große Liebe gar nicht unbedingt brauchen. Vielleicht genügte ihr die Tatsache, dass ihr erst ein Paar wurdet, und dann Eltern. Vielleicht wusste sie gar nicht, was ihr fehlt.«
Ich sehe sie an und streiche ihr mit der Hand über die Wange. Sie lächelt mich an. Nein, ich wusste es früher nicht, das stimmt. Aber später wusste ich es. Ich hatte Jens.
Jens hat mich niemals bedrängt, mich zu entscheiden. Auch an dem Tag vor Heiligabend ließ er mich gehen, ohne auf mich einzuwirken, ich solle endlich Johannes verlassen und das neue Jahr mit ihm beginnen. Stattdessen verbrachte ich Silvester mit Johannes und den Jungs. Jens feierte mit seiner Schwester. Mir war noch nie vorher jemand begegnet, der so geduldig war. Er war froh, dass er mich überhaupt wieder zurückhatte. Ich glaube, er dachte sich, dass ich schon von selbst darauf käme, Johannes zu verlassen.
Nur, als ich mich annähernd dazu entschlossen hatte, war es Frühjahr, und der Bärlauch blühte.
Sabina
Sabina stand vor dem Spiegel und machte sich fertig. Es war Heiligabend, und sie war mit Alex verabredet. Er hatte wochenlang darauf gedrängt, mit seinen Eltern zu feiern, doch schließlich hatte er eingesehen, dass sie nicht dafür zu haben war. Es sei ihr noch zu früh, hatte sie argumentiert, und man könne im nächsten Jahr immer noch den Kreis der Feiernden erweitern. Sie hatte ihm freigestellt, sich zu entscheiden – sie hätte den Abend auch mit Tanja und ihrem Freund verbringen können, die Einladung stand seit Wochen. Schließlich hatte er zugestimmt, den Abend zu zweit in einem netten Restaurant zu verbringen.
Sabina tuschte gerade ihre Wimpern, als es klingelte. Überrascht warf sie einen Blick auf die Uhr und verließ das Badezimmer. Hoffentlich war er nicht schon wieder eine halbe Stunde zu früh dran, um ihr beim Umziehen und Schminken zuzusehen. Möglicherweise war es auch Olga, die ein Problem mit der Kaffeemaschine hatte oder mit ihrem Lockenstab. »Bin ich eigentlich hier der Hausmeister?«, murmelte sie und öffnete die Tür. Vor ihr stand ein Kurier mit einem Päckchen in der Hand. »Weihnachtsgeschenk«, zwinkerte er und hielt ihr einen Apparat zum Unterschreiben hin. Neugierig nahm sie das Päckchen entgegen und warf einen Blick auf den Absender. J. Jakobi las sie und sog überrascht die Luft ein. Ohne den Blick von dem Päckchen zu wenden, schloss sie die Wohnungstür hinter sich und lief mechanisch los, ließ sich klopfenden Herzens in der Küche auf einen Stuhl fallen. Er hatte ihr etwas zu Weihnachten geschickt. War es denn zu fassen? Nach Monaten der Funkstille schickte er ihr etwas. Gerade jetzt, wo er fast in den Hintergrund ihrer Gedanken gerückt war, wo sie mit Alex beschäftigt war, der sie haben wollte, mit Haut und Haaren.
»Johannes, du bist ein Arsch«, murmelte sie und betrachtete das Päckchen. Was konnte er ihr geschickt haben? Leise, hoffnungsvolle Gedanken fanden sich in ihrem Kopf ein, wie winzige Vögel, die eben frisch geschlüpft waren und ihre ersten Zwitscherversuche machten; dabei erwartungsfroh ihre kleinen faltigen Hälse reckten. Vielleicht schenkte er ihr ein Bild mit ihnen beiden, die Größe des Päckchens würde passen. Oder eine Uhr, die sie ihm einmal in der Stadt gezeigt hatte. Oder aber, so glaubte sie
Weitere Kostenlose Bücher