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Hirngespenster (German Edition)

Hirngespenster (German Edition)

Titel: Hirngespenster (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ivonne Keller
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werden oder nicht. Kein Wort haben sie mehr über sie verloren, so sehr ich auch die Ohren gespitzt habe. Jedenfalls nicht in meinem Beisein. Es mag daran liegen, dass ich in letzter Zeit früher im Bett lande. Sabina sagte, ich würde abends zu lange auf sein, und das ginge einfach nicht so weiter. Stattdessen mache ich jetzt keinen Mittagsschlaf mehr. Mir soll es recht sein – ich war nie scharf darauf. Allerdings gehe ich ihr nun tagsüber auf die Nerven, wie sie sich auszudrücken pflegt. Ich weiß, was sie meint, sie meint meine kleinen Neckereien. Ich neige dazu, Dinge vor ihr zu verstecken, zum Beispiel bringe ich Kochtöpfe in mein Zimmer. Es gibt mir Gelegenheit, auch einmal wieder in einem Topf zu rühren – denn nach wie vor traut sie mir einfach nichts zu. Sobald ich ihr beim Kochen zur Hand gehen will, schickt sie mich fort. Ich könne mich verbrennen, oder noch schlimmer: die Suppe versalzen. Dabei habe ich sie ihr doch schon längst versalzen, allein durch meine Gegenwart. Sie merkt nichts davon, nach wie vor nicht. Wie auch? Ohne, dass ich ihr sagen könnte: »Übrigens, Sabina, ich bin’s, Silvie«, wird sie es wohl niemals erkennen. Der Clou ist, dass sie die Sache sogar abstreitet. Gerade vor ein paar Tagen war diese Tanja hier, die mich selten eines Blickes würdigt. Sie sagte: »Du hättest alles getan, um Johannes zu kriegen. Wahrscheinlich hättest du Silvie sogar gepflegt, wenn die Sache anders ausgegangen wäre.«
    Sabina stritt es vehement ab. Zeigte ihr sogar einen Vogel. »Nie hätte ich das getan«, sagte sie. »Nie im Leben.«
    Kann man mal sehen.
    Man soll niemals nie sagen.

Silvie
    Dass Jens mich die ganze Zeit belogen hatte, erfuhr ich erst, als Anna in der Suchtklinik war und man ihre Tablettendosis sukzessive reduzierte. Wir als Angehörige ließen uns aufklären, welche Art von Problemen Anna mit den Pillen in den Griff zu bekommen versuchte: Ängste, Zwänge, Stimmen im Kopf und depressive Verstimmungen, die in Antriebslosigkeit und mangelnder Hygiene mündeten. Ich konnte mir nun einen Reim auf die Stapel im Haus machen und auf die penible Sauberkeit, die immer wieder in Messietum umgeschlagen war. Wir machten uns im Internet schlau, und dort stand, dass jeder Mensch unter gewissen Umständen Zwänge entwickeln kann – jedermann hat seine eigene, ganz individuelle Stressgrenze. Die meisten Menschen haben hin und wieder leichte Zwänge, zum Beispiel eine Melodie, die man immer wieder summen muss, einen starken Drang, etwas auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu tun. Neurosen entstehen, wenn meist in der Kindheit liegende Konflikte nicht richtig verarbeitet wurden. Problematisch werden Zwänge, wenn sie ein normales Leben unmöglich machen. Bei Leuten mit Annas Krankheit handelte es sich um normal intelligente Menschen. Beruhigend.
    Anna nahm täglich an Einzel- und Gruppentherapie teil. Gleich bei meinem ersten Besuch erklärte sie mir, dass alle anderen dort ein echtes Problem hätten. Alle außer ihr natürlich. Die meisten waren wegen Alkoholsucht dort, manche wegen anderer Drogen und auch »ganz Kaputte«, die alles miteinander mixten. Mit anderen Worten, sie war ein »leichter Fall«. Nur ein paar Tabletten. Im Grunde brauchte sie gar keine Tabletten! Sie konnte jederzeit damit aufhören!
    Obwohl ich skeptisch war, machte es mir Freude, mich mit ihr zu unterhalten. Sie war so positiv gestimmt, machte Pläne für die Zukunft, freute sich, dass die Bank ihr das Haus nicht gepfändet hatte und sie nach vielleicht schon sechs Wochen Klinikaufenthalt mit den Mädchen ein neues Leben beginnen konnte. Sie wollte bei ihrem alten Arbeitgeber anfragen, ob sie stundenweise als Schneiderin arbeiten könne. Vielleicht konnte sie auch endlich selbst etwas entwerfen, das Rüstzeug hatte sie. Und um Lunas schulische Dinge wollte sie sich kümmern, das hatte sie viel zu lange vernachlässigt.
    Was erstaunlich war: Sie zeigte keinerlei Trauer über Matthias' Tod. Die Berge von Beileidsbekundungen, die per Post nach seinem Tod eingetroffen waren, ließ sie ungeöffnet, und auch ihr verschlossenes Gesicht auf der Trauerfeier hatte viele der Anwesenden verunsichert. Insbesondere der Gründer der Firma, der eine lange und löbliche Rede auf Matthias hielt, erntete nicht einmal ein Kopfnicken ihrerseits. Sie fragte auch nicht nach seinen Eltern, die bei der Beerdigung vor lauter Kummer fast mit ins Grab gestürzt waren, und grämte sich auch nicht, dass sie zukünftig alleinerziehende Mutter

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